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»Seid Ihr fertig, Bruder?« fauchte der Edelmann.

Athelstan sah ihn scharf an. Sir Fulke war offensichtlich ein Mann, der sich hinter einer Mauer aus Leutseligkeit und Gutmütigkeit verbarg; jetzt aber schien er wütend, mißtrauisch und verärgert über ihr Eindringen.

»Bin ich fertig?« echote Athelstan. »Ja und nein, Sir Fulke.«

Der Ritter blies die Wangen auf. »Der Tag vergeht, Bruder«, bemerkte er schnippisch und spähte aus dem Fenster. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, der sich um manches zu kümmern hat. Was wollt Ihr noch?«

»Ihr tragt Stiefel, Sir Fulke?«

»Ja, ich trage Stiefel«, äffte er Athelstans Tonfall nach.

»Stiefel mit Schnallen?«

Alle Farbe wich aus Sir Fulkes Gesicht.

»Ja«, murmelte er.

»Nun …« Athelstan zog die Schnalle, die er auf dem gefrorenen Wassergraben gefunden hatte, aus seinem Beutel. »Ich nehme an, die gehört Euch. Wir haben sie vor dem Turm der Nordbastion gefunden. Dennoch sagt Ihr, Ihr wart die ganze Nacht in der Stadt.«

Sir Ralphs Bruder schluckte, alle Arroganz war aus seiner Stimme verschwunden.

»Ich habe die Schnalle gestern verloren.«

»Wart Ihr auf dem Eis?«

Sir Fulke lächelte plötzlich. »Ja. Heute früh. Ihr seid nicht der einzige, Bruder, der auf die Idee gekommen ist, die Mörder könnten nachts an der Mauer hinaufgeklettert sein, um Sir Ralph zu ermorden.«

Athelstan warf ihm die Schnalle zu, und Sir Fulke fing sie ungeschickt auf.

»Damit sind wir hier fertig, Sir John. Vielleicht eine Erfrischung?«

Auf dem Gang trafen sie Colebrooke, dankten ihm für seine Aufmerksamkeit und gingen über die Außentreppe in den Innenhof des Tower. Athelstan schätzte, daß es zwei Uhr mittags sein müsse, und ein Diener, den sie an der Großen Halle trafen, bestätigte dies. Sie wollten gerade durch das Tor von Wakefield hinausgehen, als Athelstan den großen Braunbären entdeckte, der in der Ecke beim Bell Tower an die Mauer gekettet war. »Noch nie habe ich einen so großen Bären gesehen, Sir John«, rief er.

Cranston schlug ihm auf die Schulter. »Dann wird es aber Zeit, mein Junge!«

Der Bruder war fasziniert. Der Bär erwiderte die Komplimente kaum; er saß auf seinem Hinterteil und stopfte sich Abfälle, die um ihn herum verstreut lagen, in den mächtigen Rachen. Cranston klatschte in die Hände, und das Untier wandte den großen, dunklen Schädel. Eine Pranke hob sich, aber Athelstan blieb wie angewurzelt stehen, war hypnotisiert von den großen, sabbernden Lefzen, den Zähnen - lang, weiß und so spitz wie Dolche - und der rasenden Wildheit der rotbraunen Augen. Der Bär kam schwankend auf sie zu und grollte leise. Cranston packte Athelstan beim Arm und zog ihn zurück. Erschreckt durch die plötzliche Bewegung, richtete sich das Tier zu voller Größe auf, und die großen Pranken schlugen in die Luft, als der Bär an dem massiven Eisenhalsband zerrte. Der Coroner und sein Gefährte sahen, wie die an der Mauer befestigte Kette sich an ihren Halterungen spannte.

»Diese Kette«, murmelte Athelstan, »ist nicht so sicher, wie sie sein sollte.«

»Leb wohl, Ursus«, sagte Cranston leise. »Laß uns verschwinden, Athelstan. Ganz ruhig.«

Sie holten ihre Pferde und verließen den Tower. Ein paar Marktstände draußen in Petty Wales waren geöffnet, und eine Handvoll Tapferer bahnte sich einen Weg durch den knöcheltiefen, schlammigen Schneematsch. Zwei Bettlerkinder mit reisigdünnen Armen und Beinen standen an einem Kohlebecken und sangen ein Weihnachtslied. Cranston warf ihnen einen Penny hin; dann sah er zu, wie eine Frau, die wegen ihrer Streitsucht verurteilt worden war, von einem Büttel zum Pranger in der Tower Street geführt wurde. Ein eiserner Zankzaum umspannte ihren Kopf. In den schmutzigen Seitengassen blühte das Geschäft der Huren mit ihren roten Perücken, denn die Garnison im Tower versorgte sie mit einem endlosen Strom von Kunden.

Cranston fragte einen einäugigen Bettler und kam strahlend zurück.

»Ich hab’s gefunden«, verkündete er. »Das Gasthaus Zur Goldenen Mitra. Du weißt schon - wo Sir Ralph und die Hospitaliter-Ritter jedes Jahr zu Weihnachten ihr Bankett abhielten.«

Das Gasthaus lag neben dem Zollhaus an der Ecke der Thames Street: ein großartiges, geräumiges Anwesen. Ein rotnasiger Hausknecht nahm ihnen die Pferde ab. Der Schankraum war luftig, und ein Kaminfeuer sorgte für wohlige Wärme. Die Binsenstreu auf dem Boden war sauber und mit Rosmarin und Thymian durchmischt. Die Wände hatten einen Anstrich aus Kalk, um Insekten femzuhalten, und die Schinken, die von den schwarzen Deckenbalken hingen, verströmten einen so köstlichen scharfen Duft, daß Cranston sich die Lippen leckte. Sie setzten sich an einen Tisch zwischen dem Feuer und den großen, blankpolierten Weinfässern. Der Wirt, ein kleiner, rotgesichtiger, kahlköpfiger Bursche mit erstaunlich sauberer Schürze vor dem umfangreichen Bauch, warf nur einen Blick auf Sir John und brachte sogleich eine tiefe Schale, die bis zum Rand mit blutrotem Wein gefüllt war.

»Sir John!« rief er. »Erinnert Ihr Euch?«

Cranston packte die Schale an den beiden silbernen Henkeln und trank sie in einem Zug halb leer. »Ja«, antwortete er dann und spähte schmatzend über den Rand. »Du bist Miles Talbot und hast früher als Ale-Prüfer in den Schenken rings um St. Paul gearbeitet.« Cranston stellte die Schale hin und schüttelte dem Wirt die Hand. »Laß dich mit einem ehrlichen Mann bekanntmachen, Bruder Athelstan. Talbot hat immer gemerkt, wenn ein Krug Ale verwässert war. So, so, so.« Cranston löste seine Mantelspange und genoß die köstlichen Gerüche und die Wärme des Wirtshauses. »Was kannst du uns auftischen, Master Talbot? Und komm mir nicht mit Fisch! Wir wissen, daß der Fluß zugefroren und die Straße unpassierbar ist; also muß alles, was aus dem Wasser kommt, ein paar Wochen alt sein.«

Der Wirt zählte grinsend auf, was die Speisekammer zu bieten hatte, und keine halbe Stunde später servierte er zwei mit Kräutern gefüllte Hühnchen in einer pikanten Sauce aus süßer Butter und wilden Beeren, eine geschmorte Pastete, einen Apfelpfannkuchen und einen gewaltigen Rindermarkpudding. Athelstan saß sprachlos da und trank sein Bier, während Cranston jeden Teller blankputzte und alles mit einer zweiten Schale Rotwein hinunterspülte. Schließlich rülpste er, streckte sich und blickte strahlend in der Schenke umher. Dann winkte er Talbot heran.

»Master Miles - eine Gefälligkeit!«

»Was Ihr wünscht, Sir John.«

»In deinem Haus verkehrt - besser gesagt, verkehrte - der verstorbene Konstabler des Tower, Sir Ralph Whitton?« Talbots Miene wurde wachsam. »Hin und wieder«, brummelte er. »Er traf sich hier jedes Jahr zur Weihnachtszeit mit zwei Hospitalitern und anderen.«

»Ach, komm schon, Miles. Ich bin nicht dein Feind. Du kannst mir vertrauen. Worüber haben sie geredet?«

Talbot trommelte mit seinen runden Fingern auf dem Tisch. »Die saßen wie Ihr, Sir John, ein gutes Stück abseits von den anderen. Sowie ich oder einer der Hausburschen in ihre Nähe kam, sagten sie kein Wort.«

»Und ihr Benehmen? Waren sie bedrückt oder fröhlich?«

»Manchmal lachten sie, aber meistens taten sie sehr geheimnisvoll. Oft gerieten die beiden Hospitaliter in Streit mit Sir Ralph, und dann wurde er ziemlich feindselig und blaffte sie an.«