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»Sonst noch was?«

Talbot schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Cranston sah Athelstan an, schnitt eine Grimasse und zuckte die Achseln. Plötzlich stand der Wirt wieder am Tisch.

»Eines noch«, sagte er. »Etwas war merkwürdig: Vor ungefähr drei Jahren, zu Weihnachten, kam ein Fremder herein.«

»Wie sah er aus?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern, aber er hatte etwas Besonderes an sich. Er verbarg sich unter Mütze und Kapuze, redete aber wie ein Soldat. Er wollte wissen, ob Sir Ralph hier trank. Ich sagte, ich wüßte von nichts. Er verschwand, und ich habe ihn nie wiedergesehen.« Talbot lächelte bedauernd. »Sir John - auf meinen Eid, aber das ist alles, was ich weiß.«

Der Coroner saß mit geschürzten Lippen da und starrte auf die leeren Teller und Schüsseln, als wünschte er sich, das Essen, das er verzehrt hatte, möge auf magische Weise wiedererscheinen. Athelstan musterte ihn aufmerksam und ein bißchen besorgt, denn eigentlich hätte Sir John inzwischen längst nach mehr Rotwein oder spanischem Weißen brüllen müssen. »Mylord Coroner?«

»Ja, Bruder Athelstan?«

»Wir müssen ein paar Schlußfolgerungen zum Tode Sir Ralphs verfassen.«

Cranston pustete geräuschvoll. »Was können wir sagen?«

»Erstens werdet Ihr mir sicher zustimmen, daß Sir Ralph nicht ermordet wurde, weil er Konstabler im Tower war, ich meine, von irgendwelchen Bauern, die Verrat und Aufstand planen.«

»Da stimme ich dir zu, Bruder, aber der Mörder könnte trotzdem von draußen gekommen und ein Berufsmörder gewesen sein. Es gibt genug ehemalige Soldaten in der Stadt, die ihrer eigenen Mutter die Kehle durchschneiden würden, wenn der Preis stimmt.«

Athelstan strich mit dem Finger über den Rand des Weinbechers.

»Das würde ich gern glauben, Sir John, aber trotzdem: Es sieht nicht danach aus.« Er hob die Schultern. »Diskussionshalber können wir mal annehmen, daß der Mörder den zugefrorenen Graben überquert, die Nordbastion erklettert, die Fensterläden geöffnet und Sir Ralph lautlos die Kehle durchgeschnitten hat.«

»Das ist möglich und so geschehen, mein guter Priester.«

»Natürlich«, fuhr Athelstan fort, »kann der Mörder auch jemand im Tower gewesen sein, der wußte, wo Sir Ralph schlief, und die Gelegenheit nutzte, die der zugefrorene Wassergraben ihm bot, um zu den Trittkerben in der Mauer der Nordbastion zu gelangen. Entweder hat der Mörder die Tat selbst ausgeführt oder jemanden dafür bezahlt, daß der es tat.«

Cranston nahm einen großen Schluck Wein. »Fügen wir die beiden Möglichkeiten mal zusammen. Sagen wir diskussionshalber, daß Anstifter und Mörder ein und dieselbe Person sind. Buchstäblich jeder von denen, die wir befragt haben - einschließlich Mistress Philippa, die vielleicht ein bißchen rundlich, aber sehr leichtfüßig, jung und beweglich ist -, könnte auf diesen Turm geklettert sein.«

»Aber sie haben praktisch alle eine Geschichte, die den Zeitraum abdeckt.«

Cranston nickte. »Die haben sie. Und nachzuweisen, daß einer von ihnen lügt, wäre eine Aufgabe für den Teufel. Außerdem - ist dir aufgefallen, daß jeder außer dem Kaplan einen Zeugen hat, der seine Geschichte bestätigen kann? Das bedeutet«, folgerte Cranston, »daß wir es womöglich mit zwei Mördern zu tun haben statt mit einem. Die beiden Hospitaliter. Sir Fulke und Rastani. Philippa und ihr junger Liebhaber. Colebrooke und einer der Wächter.«

Athelstan starrte nachdenklich zu einem der Schinken hinauf, der sich am Balken drehte. »Eigentiich wissen wir überhaupt nichts«, meinte er. »Wir haben keine Ahnung, wer der Mörder ist oder wie er oder sie zu Sir Ralph ins Zimmer kamen. Allerdings haben wir Sir Fulkes Schnalle gefunden.«

»Aber er behauptet, heute morgen vor unserer Ankunft auf dem zugefrorenen Graben herumgelaufen zu sein.«

»Ich glaube ihm«, sagte Athelstan. »Aber erinnert Euch, wie er sagte, er habe die Schnalle am Tag zuvor verloren.«

»Was willst du damit sagen, Bruder?«

»Entweder hat er sie verloren, als er über den Burggraben geschlichen ist, um Sir Ralph umzubringen, oder ein anderer hat sie dort hingelegt. Ich vermute letzteres. Daß Sir Fulke ehrlich zugibt, auf dem Wassergraben gewesen zu sein, bewahrt ihn vor dem Verdacht. Hätte er es abgestritten, und wir könnten später beweisen, daß er doch draußen war, sähe die Sache anders aus.«

»Woher wissen wir, daß er nicht lügt?« rief Cranston. »Ist dir die Pforte vor dem Wassergraben aufgefallen? Die Angeln waren ganz verrostet. Vor uns hat diesen Durchgang seit Jahren keiner mehr benutzt. Könnte also sein, daß Sir Fulke lügt.«

»Er konnte aber auch durch eine andere Pforte gekommen sein.«

»Ein interessanter Einfall, Bruder, aber laß uns die Motive ansehen.«

Athelstan spreizte die Hände. »Es gibt ebenso viele Motive wie Leute im Tower, Sir John. War Sir Fulke habgierig? War der Kaplan wütend, weil man ihn einen Dieb genannt hat? Wollte Colebrooke Sir Ralphs Posten? Sahen Philippa und ihr Liebhaber in Sir Ralph ein Hindernis für ihre Heirat oder für Philippas Erbe?«

»Und damit«, schloß Cranston, »sind wir bei den beiden Hospitalitern. Wir wissen, daß sie nicht die Wahrheit sagen. Auf irgendeine Weise sind das Pergament und der Kuchen mit dem Mord verbunden, und sie wissen über beides etwas. Sir Ralphs Todesankündigung zeigte ein Schiff, einen Dreimaster, wie er oft im Mittelmeer unterwegs ist. Der Sesamkuchen ist das Zeichen der Assassinen. Ergo: Sir Ralphs Tod muß mit irgendeinem Geheimnis in seiner Vergangenheit Zusammenhängen, mit seiner Zeit als Soldat in Outremer.«

Athelstan stellte seinen Krug auf den Tisch. Er klappte den Mund auf und zu.

»Was ist los, Bruder?«

»Es läßt nur eine Schlußfolgerung zu, Master Coroner: Sir Ralph ist vielleicht nicht der letzte, der im Tower stirbt, bevor das Weihnachtsfest beginnt.«

5. Kapitel

Sie blieben noch eine Weile im Wirtshaus. Athelstan hatte erwartet, daß Cranston schließlich sein Pferd besteigen und nach Cheapside zurückreiten werde, aber der Coroner schüttelte den Kopf.

»Ich will zu deinem verfluchten Friedhof«, schnaubte er. »Du brauchst jemanden mit einem scharfen Verstand, um das Geheimnis dort zu ergründen.«

»Aber Lady Maude wartet sicher.«

»Soll sie!«

»Sir John, stimmt etwas nicht?«

Cranston runzelte die Stirn und blickte woanders hin.

»Geht es um Matthew?« fragte Athelstan sanft. »Ist es der Jahrestag seines Todes?«

Cranston stand auf und hakte sich bei Athelstan unter, als sie hinausgingen. Vor der Tür blieben sie stehen und warteten, bis der Hausknecht ihre Pferde gesattelt hatte. »Sag mir, Bruder, als du damals als Novize von deinem Orden weggelaufen und mit deinem kleinen Bruder nach Frankreich in den Krieg gezogen bist, warst du da glücklich?«

Athelstan spürte, wie sein Herz einen Satz tat. »Natürlich.« Er lächelte schmal. »Ich war damals jung. Das Blut kochte in meinen Adern, und ich sehnte mich nach großen Abenteuern.«

»Und als du deinen Bruder tot und kalt wie Eis auf dem Schlachtfeld fandest und nach England zurückfuhrst, um deinen Eltern zu beichten, was du getan hattest - was war da?«

Athelstan schaute in den Hof hinaus; es wurde langsam dunkel. »Im Evangelium, Sir John, sagt Christus, am Ende der Welt wird der Himmel wanken, und die Planeten werden in loderndem Feuer auf die Erde fallen.« Athelstan schloß die Augen. Er fühlte Francis’ Geist ganz deutlich. »Als ich meinen Bruder tot auf dem Feld fand«, fuhr er fort, »da stürzte für mich der Himmel auf die Erde.«

»Und was dachtest du da über das Leben?«

Athelstan rieb sich den Mund und schaute in Cranstons trauriges Gesicht. »Ich fühlte mich von ihm verraten«, sagte er leise. Cranston klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Aye, Bruder - vergiß nicht: Der blutrote Kuß des Verräters ist immer der süßeste. Daran wirst du dich erinnern, ebenso wie ich.« Athelstan starrte ihn sprachlos an. So hatte er Cranston noch nie gesehen. Der Coroner hätte längst aus vollem Hals irgendein lästerliches Lied singen und dem Wirt Beschimpfungen an den Kopf werfen oder Athelstan drängen müssen, mit ihm nach Hause zu kommen.