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Sie stiegen auf ihre Pferde, ritten still zum verschneiten Billingsgate hinauf und dann nach links in die Zuführung zur London Bridge. Dort wimmelte es von Menschen, obwohl der kalte Wind einem in Gesicht und Hände biß. Unter verhangenem Himmel bewarfen sich ein paar Jungen mit Schneebällen und kreischten vor Lachen, wenn sie trafen. Ein Bettler ohne Beine zog sich auf Brettern durch den Matsch. Ein paar zerlumpte Fährleute standen murrend am Ufer des zugefrorenen Flusses und fluchten über das Wetter, das ihnen ihren Lebensunterhalt genommen hatte. Mützen und Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, drängten andere stadteinwärts oder überquerten zusammen mit Athelstan und Cranston die schmale, eisbedeckte Brücke nach Southwark.

Der Coroner zügelte plötzlich sein Pferd und drehte sich nach einer Schar dunkler Gestalten um, die eben vorübergehuscht waren. War es eine Gruppe gewesen oder eher eine Handvoll einzelner, die aus Bequemlichkeit und Sicherheit zusammen unterwegs waren? Er war sicher, Lady Maude unter ihnen gesehen zu haben, wie sie mit blassem Gesicht unter ihrer Kapuze hervorgelugt hatte. Aber was wollte sie in Southwark? Außer Athelstan kannte sie dort niemanden, und an so einem Wintertag war Southwark ein gefährlicher Ort.

»Sir John, ist alles in Ordnung?«

Cranston blickte noch einmal der kleinen Gruppe nach, die in der Dunkelheit verschwand. Sollte er zurückreiten? Aber dann kam ein großer Karren mit eisenberingten Rädern krachend vorbei, die Leute hinter Cranston begannen, zu murren und zu stöhnen. Der Coroner gab seinem Gefährten zu verstehen, sie sollten weiterreiten. Beide überquerten die Brücke, kamen auf der anderen Seite am Priorat von St. Mary Overy vorbei und nahmen die Hauptstraße nach Southwark. Sie ritten durch enge Gassen, vorbei an großen, vierstöckigen Häusern und den wackligen Hütten und Verschlägen der Arbeiter und Handwerker. Dem Coroner drang der stechende Geruch von Hundepisse in die Nase.

Athelstan zog sich die Kapuze dichter ums Gesicht, um dem Anblick des verfaulenden Abfalls zu entgehen, den weggeworfenen Essensresten und menschlichen Exkrementen aus den Nachttöpfen, die morgens geleert wurden, und dem Kehricht aus den Häusern, die von ihren Bewohnern jetzt für die Festtage geputzt wurden. Southwark kam freilich nie zur Ruhe. Die Handwerker und Kätner gingen unablässig ihren Berufen nach: Lichtzieher kochten Schweinefett zu Talg, Abdecker, Käsehändler, Mützenmacher und Schmiede gingen ihrem Tagwerk nach, und abends, wenn die Läden schlossen, kamen die grobknochigen Gauner der Unterwelt hervor und suchten zwischen Bordellen und Garküchen am Ufer der Themse nach leichter Beute. Aber niemand kam Cranston oder Athelstan zu nahe. Der Bruder war überall hochgeachtet und Cranston gefürchteter als der Oberrichter persönlich.

St. Erconwald lag im Dunkel; Athelstan sah erfreut, daß Watkin die Lichter gelöscht hatte. Er wollte gerade Sir John durch die Pforte zum Pfarrhaus geleiten, als eine dunkle Gestalt aus dem Schatten hervorsprang und Philomel beim Zaumzeug packte. Athelstan blickte in ein langes, bleiches Gesicht unter einer teerschwarzen Kapuze.

»Ranulf, um Gottes willen, was ist los?«

»Pater, ich habe den ganzen Nachmittag auf Euch gewartet.«

»Sag ihm, er soll verschwinden, Athelstan! Mir ist kalt!«

»Kümmere dich nicht um Sir John«, sagte Athelstan beruhigend. »Was willst du, Ranulf?«

Der Rattenfänger leckte sich die blutleeren Lippen.

»Ich habe eine Idee, Pater. Ihr wißt doch, daß die großen Zünfte drüben am anderen Ufer ihre eigenen Kirchen haben. St. Mary Le Bow für die Seidenhändler, St. Paul für die Pergamentmacher.«

»Ja. Und?«

Der Rattenfänger schaute flehentlich.

»Weiter, Ranulf. Was willst du?«

»Na ja, Pater, ich und die anderen Rattenfänger haben uns gefragt, ob St. Erconwald nicht die Kirche unserer Zunftbruderschaft sein könnte.«

Athelstan unterdrückte ein Lächeln, warf einen Blick in Cranstons finsteres Gesicht und raffte die Zügel in der Faust.

»Die Bruderschaft der Rattenfänger, Ranulf? Mit St. Erconwald als Zunftkirche und mir als Kaplan?«

»Ja, Pater.«

Athelstan stieg ab. »Aber gem.«

»Wir würden natürlich unsere Abgaben zahlen.«

»In was?« johlte Cranston. »In Ratten? Ein Zehntel eures Fangs?« Ranulf warf dem Coroner einen scharfen Blick zu, aber Cranston bog sich bereits im Sattel und lachte unbändig über seinen eigenen Witz.

»Ich finde die Idee ausgezeichnet«, sagte Athelstan leise. »Wir werden uns noch darüber unterhalten. Du hast meine grundsätzliche Zustimmung, Ranulf, aber im Augenblick sind Sir John und ich sehr beschäftigt mit anderen Dingen. Wenn du vielleicht unsere Pferde in den Stall bringen und ihnen ein wenig Heu geben könntest…«

Der Rattenfänger nickte heftig, packte die Zügel von Sir Johns Pferd und verschwand damit in der Dunkelheit. Philomel folgte ihm etwas flotter als üblich; er spürte, daß die Futterzeit nahte. Athelstan führte Cranston um die Kirche, blieb stehen und bat den Coroner zu warten, damit er eine Fackel holen könne. Er lief zum Pfarrhaus, nahm eine aus der Wandhalterung, zündete sie an und lief zurück, bevor die Flüche des Coroners allzu deutlich hörbar wurden.

Sie betraten den Friedhof. Selbst zur Sommerzeit war es ein düsterer Ort. Jetzt lag er unter einem Schneeteppich, und die Äste der Eiben spreizten sich wie große, weiße Krallen über den einsamen Erdhügeln, den plumpen Kreuzen und zerbröckelnden Grabsteinen. Athelstan fühlte sich mutterseelenallein. Gespenstische Stille hing wie eine Wolke über dem Land, und selbst der Wind wehte leiser. Die Bäume standen regungslos. Kein Nachtvogel war zu hören. Hier und dort wirkten die Schatten bedrückend und finster, wie unheimliche Verstecke, in denen Dämonen oder böse Geister lauerten. Athelstan hob die Fackel in die Höhe, und Cranston schaute sich auf dem düstersten aller Gottesäcker um.

»In drei Teufels Namen, Athelstan!« zischelte er. »Wer kommt mitten in der Nacht hierher und reißt Leichen aus der letzten Ruhestätte? Wo sind die Gräber?«

Athelstan zeigte ihm die flachen Löcher im Boden. Die Erde türmte sich zu beiden Seiten, als hätte irgendeine wahnsinnige Kreatur die Leichname mit bloßen Klauen hervorgewühlt. Cranston kniete am Rande einer Grube nieder und pfiff leise durch die Zähne. Er blickte hoch, und sein fettes Gesicht schien im Fackelschein zur Grimasse verzerrt.

»Bruder, du sagst, nur die Leichen von Bettlern und Fremden wurden gestohlen?«

»Ja, Sir John.«

»Und wie sind sie beerdigt worden?«

»Der Leichnam wird in Segeltuch gehüllt und auf einem Stück Korbgeflecht in den Gemeindesarg gelegt. Während der Totenmesse wird dieser mit einer purpurnen Schabracke bedeckt, und wenn der Körper in die Erde gesenkt wird, bleibt der Sarg zurück.«

»Und ihr habt keine Spur von den Grabräubem gefunden?«

»Keine einzige.«

Cranston stand auf und wischte sich den Schneematsch von den Händen. »Wir haben drei Möglichkeiten, Bruder. Erstens: Es könnte ein makabrer Scherz sein. Manche unserer gelangweilten, reichen jungen Stutzer finden es komisch, einem Freund eine solche Leiche ins Bett zu legen. Aber in letzter Zeit hat man nichts von einem solchen üblen Streich gehört. Zweitens: Es könnten Tiere gewesen sein, vierfüßige oder menschliche. O ja«, fügte er leise hinzu, als er Athelstans schockiertes Gesicht sah, »beim Militär in Frankreich habe ich solche Abscheulichkeiten in der Gegend von Poitou gesehen.« Er stampfte mit den Füßen und blickte hinauf zu den dunklen Umrissen der Kirche. »Aber nicht einmal in Southwark kann jemand so verkommen sein. Und schließlich sind da noch die Satanisten, die Astrasoi, die unter einem bösen Stern geboren sind.« Er zuckte die Achseln. »Aber von solchen Leuten weißt du mehr als ich, Bruder. Die Leiche mag als Altar benutzt worden sein, oder man hat ihr das Blut abgezapft, um einen Dämon heraufzubeschwören. Oder sie brauchen eines der Gliedmaßen. Hast du schon von der ›Hand der Herrlichkeit‹ gehört?«