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Athelstan schüttelte den Kopf.

»Nun, da wird einem Leichnam die Hand abgehackt. Der Name desjenigen, dem die Hexe oder der Hexenmeister schaden will, wird auf einen Zettel geschrieben und zwischen die Finger geschoben. Dann wird die Hand beim ersten Schlag der Mitternachtsstunde am Fuße eines Galgens vergraben.«

Athelstan rieb sich das Gesicht. »Aber wie kann ich einem solchen Frevel ein Ende machen, Sir John? Die Gemeindediener und Büttel kümmert es nicht. Niemand will unseren Friedhof bewachen.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Cranston. Plötzlich drehte er sich um. »Da ist jemand.« Er zeigte auf zwei dunkle Gestalten neben dem Leichenhaus am anderen Ende des Friedhofes. »Siehst du, dort!« Er stürmte über die verschneite Wiese wie ein angreifender Stier, und Athelstan folgte ihm eilig.

»Halt!« brüllte Sir John. »Im Namen des Königs - halt!«

Die beiden in Mäntel gehüllten Gestalten drehten sich um und kamen ihnen langsam entgegen. Das Klappern von Stöcken und das leise Klingen einer Glocke ließ Cranston schnell zurückweichen.

»Aussätzige!« flüsterte er, und er packte Athelstans Fackel und hielt sie hoch. »In drei Teufels Namen!« hauchte er und starrte mitleidig auf die Gesichter unter den weißen Kapuzen. »Du läßt sie hier wohnen?«

Athelstan nickte. »Tagsüber. Nachts ist es leichter für sie, unbehelligt zu bleiben.«

»Haben sie etwas gesehen?«

Athelstan schüttelte den Kopf. »Sie sind stumm, aber ich glaube, sie würden sich sowieso nicht einmischen. Man muß schon ein tapferer Mann sein, Sir John, und ein gesunder sowieso, wenn man sich Grabräubem entgegenstellen will.«

»Du bist sicher, daß sie Lepra haben?« fragte Cranston leise. Athelstan grinste in die Dunkelheit. »Sie haben Briefe von den Bischöfen. Seht Euch ihre Handgelenke und die Hände an. Allerdings, wenn Ihr sie untersuchen wollt…?«

Cranston fluchte und warf einer der Kreaturen eine Münze zu. Dann stapfte er zum Haus zurück und röhrte, er habe nun genug gesehen. Ranulf, der Rattenfänger, war offenbar verschwunden, und auch alle anderen Gemeindekinder hatten sich verdrückt, als der Coroner aufgekreuzt war.

»Bleibt Ihr noch auf eine Schale Suppe, Sir John? Ich habe auch guten Rotwein.«

Cranston untersuchte ächzend und prustend den Sattelgurt seines Pferdes. »Das würde ich gern, Bruder«, antwortete er über die Schulter, »aber ich muß nach Hause.« Er wollte nicht, daß Athelstan seinen Sorgen um Lady Maude auf den Grund ging. »Ich muß nachdenken über das, was wir im Tower gesehen haben.« Er deutete auf den Kirchhof. »Mal sehen, wie ich dir dort helfen kann.« Er schwang sich aufs Pferd und trappelte in die Dunkelheit davon.

Athelstan seufzte und ging die Kirche aufschließen. Drinnen war es kalt, aber der Ordensbruder registrierte erfreut, daß der muffige Geruch verflogen war. Genüßlich roch er den Duft der grünen Zweige, die so liebevoll im Kirchenschiff und auf den Stufen zum Chorraum verteilt worden waren. Die St.-Johns-Kapelle im Tower fiel ihm ein, und er überlegte, wieviel Lügen ihm dort wohl erzählt worden waren. Athelstan war sicher, daß der Mörder im Tower lebte, und ebenso überzeugt davon, daß eine böse Tat aus der Vergangenheit Sir Ralph schließlich doch noch eingeholt hatte.

Er nahm etwas Zunder aus seinem Beutel, zündete zwei Fackeln im Kirchenschiff an und ging in die Sakristei, um sein zerfleddertes Gebetbuch zu holen. Dann kniete er nieder und begann seine Gebete. Als er bei der Psalmzeile »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« ankam, hielt er inne, ließ sich auf die Fersen sinken und starrte in das Flackerlicht einer Kerze.

Hatte Gott ihn verlassen? Warum geschahen solche Dinge wie die Schändung des Friedhofes, der Mord an Sir Ralph oder Cranstons Schmerz? Oh, Athelstan wußte um das Böse, aber manchmal, vor allem, wenn er so in die Dunkelheit starrte, fragte er sich doch, ob ihm jemand zuhörte. Was, wenn nicht? Wenn Christus nicht von den Toten auferstanden und wenn die Religion nichts als Hokuspokus war?

Schmerzerfüllt wich Athelstan vor dem Abgrund des Zweifels und der Niedergeschlagenheit zurück. Er beendete seine Gebete, schlug ein Kreuz und hockte sich mit dem Rücken ans Chorgitter. Er atmete tief durch und versuchte, Geist und Seele zu beruhigen, damit er sich auf die jüngsten Ereignisse im Tower konzentrieren konnte.

»Was ist«, fragte er in die Dunkelheit, »wenn Sir Ralph von geheimen Bauemführern ermordet worden war? Und wenn der Aufstand kommt… ?«

Er döste etwa eine Stunde; dann schob sich ein warmes, pelziges Etwas unter seine Hand. »Guten Abend, Bonaventura«, sagte er. »Ein kalter Tag für einen Gentleman mit Sinn für Muße.«

Er streichelte den Kater zärtlich und kraulte ihn hinter den Ohren; Bonaventura schnurrte vor Wohlbehagen. »Hast du alle deine Damen in der Nachbarschaft besucht?« Athelstan kannte Bonaventuras sexuelle Talente. Manchmal brachte der Kater seine »Damen« sogar mit auf die Kirchentreppe, wo sie dann einem kalten Silbermond ihre eigenen gespenstischen Vespern sangen. »Was wird geschehen, Bonaventura, wenn der Aufstand kommt? Werden wir uns auf die Seite von Pike, dem Grabenbauer, und den anderen Besitzlosen stellen?«

Bonaventura grinste und zeigte dabei rosiges Zahnfleisch und spitze Elfenbeinzähne. Pike, der Grabenbauer! Merkwürdig, dachte Athelstan, aber so war es nun mal. Er konnte es nicht beweisen, war aber sicher, daß der Grabenbauer der Großen Gemeinde angehörte und für ihre Anführer geheime Botschaften überbrachte. Athelstan straffte sich, als die Kirchentür aufging.

»Bruder Athelstan? Bruder Athelstan?«

Der Ordensbruder lächelte. Benedicta. Vielleicht würde sie das Abendbrot mit ihm teilen? Sie könnten über die Gemeinde plaudern und klatschen; alles, solange es nur Ablenkung brachte. Er setzte Bonaventura hin, stand auf und lächelte dann noch etwas breiter, um seine Enttäuschung zu verbergen. Neben Benedicta stand, im Fackelschein deutlich sichtbar, ein hochgewachsener Mann. Sein Gesicht war von der Sonne dunkelbraun gebrannt, und sein rabenschwarzes Haar am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Er trug einen blauen Mantel, der bis auf die schneefleckigen Stiefel reichte. Athelstan ging ihnen entgegen. Der Mann sah auffallend gut aus, fand er; er hatte die scharfen Züge eines Wanderfalken, lebhafte dunkelbraune Augen, eine Hakennase und einen sauber getrimmten Bart. Athelstan sah eine Perle, die an einer goldenen Kette an seinem Ohrläppchen hing.

»Das ist Doktor Vincentius«, erklärte Benedicta.

Athelstan ergriff eine kraftvolle braune Hand. »Guten Abend, Sir. Ich habe von Euch gehört.«

Und wer hätte das nicht? dachte er bei sich. Der Arzt wohnte in der Duckets Lane, abseits der Windmill Street, auf der anderen Seite des Gasthofes Zum Wappenrock. Dort hatte er vor kurzem ein großes Haus gekauft, mit einem Garten, der an den Fluß grenzte - direkt gegenüber von Botolph’s Wharf. Vincentius hatte sich als Arzt einen Namen gemacht. Seine Honorare waren gering, er ließ die Patienten nicht mit Blutegeln zur Ader und benutzte auch keine wunderlichen Sternenkarten oder törichte Beschwörungsgesänge. Statt dessen legte er großes Gewicht auf Sauberkeit, vernünftige Ernährung, die Wirkung von abgekochtem Wasser und die Notwendigkeit, Wunden sauberzuhalten. Cecily, die Hure, hatte einmal angedeutet, daß er eine Salbe verwende, die gewisse Geschwüre an den empfindlichsten Körperteilen höchst wirkungsvoll zum Abklingen bringe. Athelstan betrachtete das gutaussehende Gesicht, und er sah auch Benedictas strahlendes Lächeln. Eifersucht durchfuhr ihn wie ein Stich.

»Ich habe von Euch gehört, Pater«, erwiderte der Doktor lächelnd.