Mowbray schüttelte die Erinnerungen jäh ab. Er glaubte ein Geräusch gehört zu haben, dort hinten am Ende der Brüstung, wo die Treppe begann. Nein, dachte er dann, es war nur der Wind. Er kehrte zu seinen Erinnerungen zurück. Merkwürdig, daß Adam dieses Jahr zu Weihnachten nicht gekommen war. Vielleicht hatte er zuviel Angst gehabt. Oder hatten der tote Sir Ralph und der jetzt so reiche Bürger Adam etwas gewußt, was er nicht wußte? Was war vor drei Jahren passiert, daß der Konstabler solche Angst bekommen hatte?
»Wir alle fürchten uns«, flüsterte Mowbray. Diese Angst hatte sie alle verändert. Das tut das Böse mit dir, dachte er: Es zerfrißt den Willen, läßt die Seele verrotten und erfüllt die Kammern und Gänge des Verstandes mit seinem üblen Geruch. Und was damals geschehen war, vor so vielen Jahren in Outremer, war böse! Bartholomew war ihr Anführer gewesen. Die Hälfte des Schatzes hatte ihm gehört, und er hatte ihnen vertraut - ein schrecklicher Fehler. Betrug! Verrat! Die Worte kreischten wie gepeinigte Geister durch die düsteren Tiefen in Mowbrays Seele. Ralph hatte es geplant, aber sie alle hatten sich beteiligt an der bösen Tat. Mowbray stampfte mit den Füßen, um die Kälte zu vertreiben. Oh, er hatte seine Sünden gebeichtet, war barfuß zum Schrein des heiligen Jakob zu Compostela gepilgert, und er und Fitzormonde waren Hospitaliter-Ritter geworden, um Sühne zu leisten.
Er starrte hinaus in die Finsternis. »O gütiger Jesus«, betete er, »war das noch nicht genug?«
Der Hospitaliter fühlte, wie die schwarzen Dämonen der Hölle ihn umzingelten. Welches Grauen barg die ewige Verdammnis für den Verräter? Würde man ihn mit Pech bestreichen und in eine schwarze Grube voller Schwefel werfen, wo Nattern ihm die Augen aussaugten und Ottern sich um seine lügenhafte Zunge wanden? Was konnte er tun, um sich von solchen Phantasien zu befreien? Mit Cranston reden? Nein! Vielleicht Bruder Athelstan? Mowbray dachte an die dunklen Augen und das verschlossene Gesicht des Dominikaners. Er war solchen Männern schon begegnet; einige seiner Oberen bei den Hospitalitern hatten die gleiche Gabe, konnten, wie Athelstan, jeden Gedanken spüren. Der Ordensbruder wußte, daß hinter Sir Ralphs Tod etwas Böses, Verkommenes steckte.
Mowbray fuhr hoch, als ein Nachtvogel hinter den Mauern kreischte. Ein Hund heulte protestierend. War es ein Hund? Oder einer von Satans Spähern, der die Legionen der Verdammten aus den Abgründen der Hölle heraufbefahl? Eine Glocke schepperte. Mowbray stöhnte voller Angst, seine Phantasiegebilde hatten ihn im Griff. Die Glocke schien aus den Eingeweiden der Erde heraufzuschallen. Fluchend versuchte er, sich zu beruhigen.
Es war die Sturmglocke des Tower! Mowbrays Hand fuhr zum Schwertgriff; diese große Messingstimme erklang nur, wenn der Tower angegriffen wurde! Fest umklammerte er das Schwert. Vielleicht hatte er sich geirrt? Vielleicht war Sir Ralphs Tod das Werk von Rebellen gewesen, die jetzt zurückkamen? Er lief auf der kiesbestreuten Mauer entlang. Er wollte kämpfen. Er wollte töten, wollte der Wut, die in ihm kochte, Luft machen. Plötzlich stolperte er. Er schlug mit den Armen wie ein Vogel mit den Flügeln, rabenschwarz gegen den Himmel, und dann verlor er das Gleichgewicht und fiel, und sein Geist war noch in den Klauen des Deliriums. Er war wieder ein Junge, und er sprang von einer Klippe in einen der lieblichen Flüsse in South Yorkshire. Er war der tapfere junge Ritter, der die Mauern von Alexandria erstürmte und den anderen zurief, sie sollten ihm folgen. Und dann - Dunkelheit.
Mowbrays Körper schlug krachend auf dem Boden auf, und als sein Kopf auf die scharfen, vereisten Steine traf, zerspritzte sein Gehirn. Er zuckte noch einmal und lag dann still; nur eine sterbende Hand schob sich tastend unter den Mantel zu der Tasche mit dem gelben Pergament, auf das ein Schiff gezeichnet war, mit dunklen Kreuzen in jeder Ecke.
6. Kapitel
Athelstan stand vor seiner Kirche und schaute voll ungläubiger Freude in den blitzblauen Himmel. Die frühe Morgensonne tanzte schimmernd auf den schneebedeckten Dächern seiner Pfarrei. Der Ordensbruder atmete tief durch und seufzte. Er hatte gut geschlafen, war früh aufgewacht, hatte das Offizium gesprochen, die Messe gefeiert, gefrühstückt und dann das Haus und Philomels Stall ausgefegt. Auf dem Friedhof war er auch schon gewesen. Die Aussätzigen waren fort und alle Gräber unberührt. Athelstan war zufrieden, um so mehr, weil das kalte Winterwetter sich so plötzlich aufgeheitert hatte, als wolle Christus höchstpersönlich an seinem hohen Festtag schönes Wetter haben. Athelstan schaute sich um und lächelte Cecily zu, die die Kirchentreppe fegte. Sie lächelte und schaute dann mit unergründlichem Blick zu Huddle hinüber, der verträumt mit Holzkohle eines seiner kraftvollen Gemälde für die Kirche skizzierte.
»Laß dich nicht ablenken, Cecily«, brummte Athelstan, streckte sich und wandte das Gesicht zur Sonne. »Gelobt seist Du, O Herr«, betete er, »für den Bruder Tag. Gelobt seist Du, O Herr«, fuhr er im Sonnengesang des heiligen Franz von Assisi fort, »für unsere Schwester, die Mutter Erde.« Er schnupperte und rümpfte die Nase. »Auch wenn sie in Southwark eher nach saurem Gemüse und Müll stinkt«, fügte er im stillen hinzu. Andere schöne Morgen fielen ihm ein, auf dem Bauernhof seines Vaters in Sussex, und gleich schien die Sonne weniger hell zu strahlen. »Seid ihr glücklich, Pater?«
Athelstan lächelte Benedicta an. »Ja. Du bist heute nicht bis zum Ende der Messe geblieben!«
»Ich konnte nicht, Pater - hattet Ihr das vergessen?«
Athelstan fiel das Datum ein, und er verzog das Gesicht. Nein, Simon, den Zimmermann, hatte er nicht vergessen - eines seiner ungeratenen Pfarrkinder, einen rotgesichtigen, vierschrötigen Mann voller Jähzorn und mit einem langen walisischen Dolch. Vor zwei Wochen hatte Simon nach einem Saufgelage in der Old Fish Street ein Mädchen vergewaltigt und danach brutal verprügelt. Man hatte ihm im Rathaus den Prozeß gemacht, und morgen würde er hängen. Simon besaß weder Familie noch Freunde, und vor drei Tagen hatte der Gemeinderat Athelstan und Benedicta gebeten, den Unglücklichen noch einmal zu besuchen. Der Ordensbruder hatte Cranston sogar um Umwandlung des Urteils gebeten, aber der Coroner hatte bedauernd den Kopf geschüttelt.
»Bruder«, hatte er gesagt, »selbst wenn ich wollte, ich könnte wenig tun: Das Mädchen ist erst zwölf Jahre alt und wird nie mehr laufen können. Der Kerl muß sterben.«
Athelstan schaute zum Himmel. »Gott im Himmel, erbarme Dich seiner«, sagte er leise. »Und hilf auch seinem armen Opfer!«
»Was sagt Ihr, Pater?«
»Nichts, Benedicta, gar nichts.« Athelstan wollte gerade in die Kirche zurückgehen, als ein junger Bote schlitternd um die Ecke kam und seinen Namen rief. Athelstan stöhnte auf. »Was gibt’s, Mann?« Als wüßte er es nicht schon längst.
»Sir John Cranston erwartet Euch, Pater, in der Taverne Zum Goldenen Lamm beim Rathaus. Er sagt, es sei dringend, Pater. Ihr müßt sofort kommen.«
Athelstan fischte einen Penny aus seiner Geldbörse und warf ihn dem Jungen zu. »Lauf zu Sir John und sag ihm, er soll bleiben, wo er ist, und nicht zuviel trinken. Ich bin bald da.«
Athelstan nahm die Schlüssel zur Kirche, die er an einer Schnur um den Leib trug, und drückte sie Benedicta in die weiche, warme Hand.
»Kümmere dich um die Kirche«, bat er.
Ihre Augen weiteten sich in gespieltem Erstaunen. »Als Frau verantwortlich für die Kirche, Pater? Als nächstes werdet Ihr sagen, Gott liebe die Frauen mehr als die Männer, weil er Eva erst im Paradies erschaffen hat und nicht vorher wie Adam.«
»Es heißt aber auch, die Schlange habe das Gesicht eines Weibes gehabt.«
»Aye, und das verlogene Herz eines Mannes.«
»Du wirst die Kirche abschließen?«