»Wann war das?«
»Heute vormittag. Die Frau ist sofort zu einem der Sheriffs gelaufen. Den Rest kennst du.«
»Lady Horne hat sehr schnell gehandelt.«
»Ja, auch der Bürgermeister ist mißtrauisch. Er glaubt, daß Lady Horne mehr weiß, als sie zugibt.«
Athelstan schaute zur Tür; eine Horde Hausierer mit verschrammten Umhängetabletts drängte herein und brüllte wüst nach Ale. Ein einäugiger Bettler folgte, und für einen Penny war er bereit zu tanzen. Der klapperdürre, in schmutzige Lumpen gehüllte Körper hüpfte grotesk und unter dem höhnischen Gelächter der Kesselflicker von einem Fuß auf den anderen. »Ist es nicht merkwürdig, Sir John«, meinte Athelstan leise, »wie wir Menschen ein solches Vergnügen an der Demütigung anderer finden?«
Cranston dachte an Lady Maude, blinzelte und schaute weg. Athelstan wurde unmhig. »Also, Sir John, befragen wir jetzt Horne oder gehen wir zum Tower?«
Cranston stand auf. »Meine Aufgabe ist es, die Ursache des Todes zu ergründen«, verkündete er großspurig. »Nicht, Botengänge für die Mächtigen der Stadt zu erledigen. Also gehen wir zum Tower. Schließlich - wie heißt es in der Schrift? Wo der Leichnam liegt, da sammeln sich die Geier.«
»Sir John?« Athelstan kratzte sich am Kopf. »Diese Warnung - der Sesamkuchen und das Schiff… das beunruhigt mich immer noch.«
»Was meinst du damit?« fragte Cranston schwerzüngig und schwankte gefährlich.
»Nun, Horne zum Beispiel hat den Sesamkuchen als Drohung erkannt. Aber weshalb ist diese plumpe Zeichnung von einem Schiff für ihn und die anderen so schrecklich?«
»Alle haben Angst, weil sie Lügner sind«, fauchte Cranston. »Keiner sagt die Wahrheit.« Er funkelte Athelstan unter borstigen Brauen hinweg an.
»Was ist mit Euch, Sir John?« fragte Athelstan hartnäckig. »Ich spüre doch die Wut und den Schmerz, der in Euch gärt. Ihr müßt es mir sagen.«
»Bald«, knurrte der Coroner. »Laß uns gehen.«
Sie holten ihre Pferde aus dem Stall und gingen durch die kalten, vollgestopften Straßen. Jeder Londoner schien unterwegs zu sein; die Standbesitzer versuchten, entgangene Geschäfte wettzumachen, und die Luft war schwer vom würzigen Duft aus Schenken und Küchen. Sie kamen nach Comhill, und dann ging es vorbei an Leadenhall und Aldgate. Bei einer Menschenmenge blieben sie stehen, die sich an der Ecke von Poor Jewry um einen Redner drängte, eine erstaunliche Gestalt mit langem, strengem Gesicht; sein Kopf war völlig kahlgeschoren und der dürre Körper von Kopf bis Fuß in ein schwarzes Gewand gehüllt. Der Mann verstummte, als er Cranston erblickte, und sein Mund und Kinn strafften sich vor Wut. Der Zorn ließ seine Augen glühen, und Athelstan fühlte sich an die Gestalt Johannes des Täufers im Mummenschanz erinnert. Der Mann ließ Cranston nicht aus den Augen, holte tief Luft und reckte einen knochigen Finger in den klaren blauen Himmel.
»Weh dieser Stadt!« schnarrte er. »Weh ihren korrupten Beamten! Weh jenen, denen sie dienen, die, in Seide gekleidet, sich faul auf den Kissen lümmeln und die Bäuche mit bestem Essen und schwerstem Wein füllen! Sie werden der Wut, die dakommt, nicht entrinnen. Wie können wir essen und trinken, wenn unsere armen Brüder und Schwestern hungern? Was werden sie uns dereinst antworten?«
Cranston trat wütend nach vom, aber Athelstan hielt ihn am Ärmel fest.
»Nicht jetzt, Sir John!«
»Wer ist das?« fauchte Cranston.
»Der Heckenpriester. John Ball. Ein großer Prediger«, flüsterte Athelstan. »Der Mann ist sehr beliebt. Dies ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort.«
Cranston holte tief Luft, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte weiter. Die flammende Rede des Predigers folgte ihnen bis zum Ordenshaus der Kreuzbrüder und weiter durch eine Gasse Richtung Tower.
»Eines Tages«, knirschte Cranston, »werde ich diesen Bastard hängen sehen!«
»Sir John, was er sagt, ist die Wahrheit.«
Der Coroner drehte sich um. Alle Wut wich, und sein Gesicht und sein Körper schienen zu schrumpfen.
»Was soll ich tun, Athelstan? Wie kann ich die Armen von Kent ernähren? Vielleicht esse ich zuviel, und sicher trinke ich zuviel, aber ich strebe nach Gerechtigkeit und tue, was ich kann.« Cranstons große dicke Hände flatterten wie die Flügel eines verletzten Vogels, und Athelstan sah den Schmerz in seinen Augen.
»In drei Teufels Namen, Bruder, ich habe ja nicht einmal meinen eigenen Haushalt im Griff.«
»Lady Maude?« fragte Athelstan.
Cranston nickte. »Ich fürchte, sie hat einen anderen kennengelernt. Vielleicht einen Stutzer vom Hofe.«
Athelstan starrte ihn ungläubig an.
»Lady Maude? Niemals! Sir John, Ihr seid verrückt!«
»Wenn jemand anderes das zu mir sagte, würde ich ihn umbringen.«
»Also ich sage es. Lady Maude ist eine ehrbare Frau, und sie liebt Euch von Herzen. Allerdings frage ich mich manchmal«, knurrte er erbost, »wie sie das schafft.« Er packte den dicken Coroner beim Mantel. »Welchen Beweis habt Ihr dafür?«
»Gestern abend habe ich sie über die London Bridge aus Southwark kommen sehen, aber als ich sie fragte, wo sie war, sagte sie: Nur bis zur Cheapside.«
Athelstan war im Begriff, knapp und wütend zu antworten, aber die Worte des Coroners erinnerten ihn: Eine Woche zuvor, kurz vor dem Fest der Heiligen Jungfrau, hatte er Lady Maude in der Nähe des Gasthauses in Southwark gesehen. Er hatte es merkwürdig gefunden, dann aber vergessen. Cranstons Augen wurden schmal.
»Du weißt etwas, nicht wahr, du verfluchter Mönch?« Athelstan wandte sich ab. »Ich bin ein Ordensbruder«, entgegnete er sanft. »Sir John, ich weiß nur, daß ich Euch und Lady Maude sehr schätze. Und ich weiß, daß sie Euch niemals betrügen würde.«
Cranston drängte an ihm vorbei. »Los!« bellte er. »Wir haben zu tun!«
Am Ende der Gasse angelangt, gingen sie den Hang hinauf und betraten den Tower durch eine Seitenpforte. Eine der Wachen nahm ihnen die Pferde ab und führte sie über das Tower Green, das jetzt knöcheltief von Schneematsch bedeckt war, zu Colebrooke, der sie niedergeschlagen erwartete.
»Wieder ein Toter« sagte er betrübt. »Sir John, ich wünschte, ich könnte sagen, Ihr seid mir willkommen.« Er schaute zum blauen Himmel hinauf, wo die Raben krächzten, und deutete in die Höhe. »Ihr kennt die Legenden, Sir John? Solange die Raben hier sind, wird der Tower nicht fallen. Und wenn sie so durchdringend krächzen, ist das immer ein Zeichen des nahenden Todes.« Colebrooke blies sich auf die Fingerspitzen. »Unglücklicherweise nimmt das Lied der Raben allmählich kein Ende mehr.«
»Wußte irgend jemand, daß Mowbray die gleiche Warnung erhalten hatte wie Sir Ralph?« fragte Cranston unvermittelt. Colebrooke schüttelte den Kopf. »Nein. Mowbray fühlte sich unbehaglich, aber nach Sir Ralphs Tod ging es uns allen so. Er und Sir Brian zogen sich zurück. Gestern nacht machte Mowbray seinen üblichen Spaziergang oben auf der Mauer zwischen dem Salt Tower und dem Broad Arrow Tower. Dort war er, als die Sturmglocke läutete. Anscheinend hörte er den Alarm, lief los, rutschte aus und stürzte zu Tode.«
»War niemand bei ihm auf dem Wehrgang?«
»Nein. Und wenn wir die Warnung nicht in seiner Tasche gefunden hätten, hätten wir das Ganze tatsächlich für einen simplen Unfall gehalten.«
»War es rutschig dort oben?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Sir John, Sir Ralph war äußerst streng in diesen Dingen. Sowie das Wetter sich verschlechtert, wird jede Stufe mit Sand oder Kies bestreut.«
»Und wer hat die Glocke geläutet?« fragte Athelstan.
»Das ist das Geheimnis. Kommt, ich zeig’s Euch.«
Sie gingen in die Mitte des Tower Green. Der Schnee war dort fast unberührt und türmte sich um einen mächtigen Holzpfahl, an dem ein waagerechter Balken angebracht war, wie bei einem Galgen. An einem eisernen Ring hing die Sturmglocke, und vom schweren Messingklöppel baumelte ein langes Seil.