Выбрать главу

»Seht Ihr«, sagte Colebrooke und zeigte auf die Glocke, »sie wird nur geläutet, wenn der Tower direkt angegriffen wird. Die Glocke ist so aufgehängt, daß sie, wenn man das Seil auch nur berührt, pausenlos läutet.«

Sir John schaute hoch und nickte weise. »Natürlich«, sagte er. »Solch einen Mechanismus habe ich schon mal gesehen. Auch wenn die Wache verwundet ist, braucht sie die Glocke nur in Gang zu setzen, und dann schwingt und läutet sie so lange, bis sie angehalten wird.«

»Genau!« sagte Colebrooke. »Und da liegt das Geheimnis. Ich selbst habe die Glocke angehalten. Es war niemand in der Nähe.«

»Aber jemand könnte sie geläutet haben und dann weggelaufen sein«, meinte Cranston.

Colebrooke schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ich kam mit einer Fackel heraus und brachte die Glocke zur Ruhe, aber als ich den Schnee untersuchte, fand ich weit und breit keine Fußspuren.«

»Wie?« fragte Cranston. »Überhaupt keine?«

»Keine einzige, Sir John.« Colebrooke deutete auf den Schneeteppich ringsum. »Weil diese Glocke so wichtig ist«, erklärte er, »darf niemand ihr nahe kommen. Sogar wenn die Soldaten betrunken sind, halten sie Abstand, damit sie nicht dagegen stolpern und die Glocke in Gang setzen.«

»Und es fand sich auch sonst nichts?«

»Nichts. Nur die Klauenspuren der Raben.«

»Aber das kann nicht sein«, meinte Athelstan.

Colebrooke seufzte. »Da bin ich ganz Eurer Meinung, Pater. Und die Sache wird noch geheimnisvoller, weil die Wachen, die rund um die Wiese patrouillierten, niemanden gesehen haben, der in die Nähe der Glocke gekommen wäre. Und es wurden keine Fußspuren gefunden.« Colebrooke wandte sich ab und spuckte aus. »Zeit zum Sterben«, klagte er. »Das Lied der Raben ist das einzige, das wir hören.«

»Und wo waren alle?« fragte Cranston.

»Oh, Mistress Philippa hatte uns alle zum Abendessen in den Beauchamp Tower eingeladen.«

»Alle?« wiederholte Athelstan.

»Naja, die beiden Hospitaliter hatten abgesagt. Rastani ist nicht gekommen, und ich war nicht ständig da, weil ich meinen Rundgang machen mußte. Ich war gerade wieder zu Mistress Philippas Gesellschaft zurückgekehrt, als die Glocke losging.«

»Und Ihr habt niemanden entdeckt?« Cranston blieb beharrlich.

»Niemanden«, bekräftigte Colebrooke. »Jetzt wird es den Soldaten unbehaglich. Sie führen düstere Reden von Dämonen und Gespenstern, und der Tower ist keine beliebte Garnison. Ihr kennt ja Soldaten, Sir John; sie sind schlimmer als Seeleute. Sie erzählen sich jetzt die alten Geschichten von der uralten Opferstätte, auf deren Überresten der Tower angeblich steht. Vom Blut, das in den Mörtel gemischt sei, und von den Leichen in den Fundamenten.«

»Unsinn!« knurrte Cranston. »Was meinst du, Bruder?« Athelstan zuckte die Achseln. »Der Lieutenant hat vielleicht recht, Sir John. Es gibt mehr Mächte zwischen Himmel und Erde, als wir kennen.«

»Du glaubst also den Unsinn von den Gespenstern?«

»Natürlich nicht. Aber der Tower ist ein blutiger Ort. Männer und Frauen sind hier eines schrecklichen Todes gestorben.« Athelstan schaute sich um und schauderte trotz des strahlenden Sonnenscheins.

»Die Angst ist das eigentliche Gespenst«, fuhr er dann fort. »Sie saugt uns die Harmonie aus dem Herzen und verstört unsere Seele. Sie schafft eine Atmosphäre der Gefahr, der unheimlichen Bedrohung. Unser Mörder ist höchst geschickt und intelligent. Er erreicht genau das, was er will.«

»Wer hat den Toten gefunden?« fragte Cranston.

»Fitzormonde. Als die Glocke läutete, rannte alles umher und kontrollierte Türen und Tore. Fitzormonde suchte Mowbray und fand die Leiche.«

»Wir werden uns den Wehrgang ansehen«, sagte Athelstan. »Master Lieutenant, ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr alle in Mistress Philippas Gemächern versammeln könntet. Übermittelt der Lady meine Entschuldigung und meine Bitte um Nachsicht, aber es ist wichtig, daß wir uns dort treffen, wo Ihr gestern abend wart, als die Sturmglocke läutete.«

Cranston und Athelstan sahen Colebrooke nach.

»Glaubst du, da ist ein Zusammenhang?« fragte Cranston. »Wo?«

»Zwischen der Sturmglocke und Mowbrays Absturz.«

»Selbstverständlich, Sir John.« Athelstan zog ihn am Ärmel, und sie gingen über den menschenleeren Innenhof zu der Treppe, die zum Wehrgang hinaufführte. Dort blieben sie stehen und schauten an der Festungsmauer hinauf.

»Ein furchtbarer Sturz«, murmelte Athelstan.

»Du sagst, da ist ein Zusammenhang«, drängte Cranston gereizt, »zwischen der Sturmglocke und Mowbrays Absturz.«

»Nur eine Hypothese, Sir John. Mowbray ging oben auf der Mauer spazieren. Wie viele alte Soldaten war er gern allein, um nachzudenken. Da steht er nun und schaut in die Dunkelheit. Er hat Warnungen erhalten: Sein Tod soll unmittelbar bevorstehen. Er ist versunken in Gedanken, Befürchtungen, Ängsten. Plötzlich gellt die Sturmglocke; also wird die größte Festung des Königreiches angegriffen.« Athelstan schaute Sir John in die traurigen Augen. »Was hättet Ihr getan - an Mowbrays Stelle? Schließlich, Sir John«, fügte er verschmitzt hinzu, »seid auch Ihr ein Kriegsmann, ein Soldat.«

Cranston schob die Biberfellmütze in den Nacken, kratzte sich den fast kahlen Schädel und schürzte die Lippen wie Alexander der Große persönlich. »Ich würde losrennen, um herauszukriegen, was dahintersteckt«, antwortete er dann nachdenklich. »Ja, das würde ich tun.« Er sah Athelstan an. »Natürlich, Mowbray wird das gleiche getan haben. Aber was ist dann passiert? Ist er ausgerutscht? Oder wurde er gestoßen?«

»Ich glaube nicht, daß er ausgerutscht ist. Mowbray dürfte zu vorsichtig gewesen sein. Und ich bezweifle, daß er sich von irgend jemandem dort kampflos hätte herunterstürzen lassen.«

»Also wie dann?«

»Ich weiß es nicht, Sir John. Laßt uns zunächst die Tatsachen sichten.«

Sie wollten gerade die Treppe hinaufsteigen, als plötzlich eine Stimme sang: »Guten Morgen, meine Freunde!« Rothand sprang, von seinen bunten Lumpen umflattert, durch den Matsch auf sie zu. »Guten Morgen, Master Coroner. Guten Morgen, Sir Pfaffe! Mögt Ihr den alten Rothand?«

Athelstan sah das Huhn in seiner Hand zappeln. Der arme Vogel kreischte und flatterte, und seine Krallen schlugen gegen Rothands Bauch und zerrissen seine Lumpen noch mehr, aber Rothand hielt ihn fest bei der Kehle.

»Wieder ist der Tod gekommen!« sang er, und in seinen hellblauen Augen funkelte grausame Freude. »Der alte Rote Schlächter ist zurückgekommen, und noch mehr Menschen werden sterben. Wartet’s nur ab. Der Tod kommt, schnapp, gerade so!«

Und ehe Athelstan und Cranston etwas tun konnten, biß der Verrückte in den Hühnerhals und riß die Gurgel heraus. Der Vogel krächzte noch einmal, zappelte und erschlaffte dann. Rothand starrte sie an, und sein Mund war voller Blut, Schleim und Federn.

»Tod! Tod! Tod!« sang er.

»Verschwinde!« kläffte Cranston. »Hau ab, du kleiner Scheißer!« Rothand drehte sich um und rannte davon; das Blut des getöteten Huhns spritzte in den Schneematsch. Cranston sah ihm nach, bis er hinter einer Mauer verschwunden war.

»In meiner Abhandlung, Bruder«, sagte er leise, »werde ich Häuser für solche Menschen vorschlagen. Allerdings frage ich mich…«

»Was, Sir John?«

»Nun, ich frage mich, ob Rothand so verrückt ist, wie er tut.« Athelstan zuckte die Achseln. »Wer könnte entscheiden, wer verrückt ist, Sir John? Vielleicht hält Rothand sich für den einzigen vernünftigen Menschen hier.«

Athelstan ging voran, die steile Treppe hinauf. Sir John folgte ihm schnaufend und finstere Flüche murmelnd. Der Wind peitschte ihre Gesichter. Auf halber Höhe blieb Athelstan stehen, bückte sich und hob eine Handvoll des mit Kies gemischten Sandes hoch, der jede Treppenstufe bedeckte.