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»Niemand würde hier ausrutschen, Sir John.«

»Außer, er wäre betrunken oder unvorsichtig«, erwiderte Cranston.

»Aye, Sir John. Und ein nüchterner Soldat ist in der Tat eine Seltenheit.«

»Aye, Mönchlein, eine große Seltenheit, aber nicht so selten wie ein heiliger Priester.«

Athelstan grinste und ging weiter bis zur Brustwehr hinauf. Der Wehrgang war etwa anderthalb Schritt breit und ebenso sorgfältig wie die Treppe mit Sand und Kies bestreut. Die beiden lehnten sich an die Brüstung. Schwer atmend spähte Cranston hinunter und beobachtete neugierig die Gestalten, die dort wie schwarze Ameisen den diversen Geschäften einer Garnison nachgingen. Dann schaute er hinauf in den blauen Himmel; zarte Wolkenschleier strahlten in der kräftigen Mittagssonne. Dem Coroner war plötzlich ziemlich schwindlig, und er verfluchte sich insgeheim, weil er so viel getrunken hatte.

»Das Alter«, murmelte er.

»Wie bitte?«

»In media vitae sumus in morte«, sagte Cranston. »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, Bruder. Ich fühle mich hier oben nicht allzu sicher. Damals in Frankreich, als ich jünger, aber noch nicht so weise war wie heute, habe ich einen solchen Wehrgang gegen die Besten gehalten, die die Franzosen uns heraufschickten.« Cranston fühlte, wie ihn Selbstmitleid durchströmte. Ob auch Maude ihn alt fand? Sir John holte tief Luft und bemühte sich, Wut und Angst, die ihn durchzuckten, zu unterdrücken. »Geh du weiter, Athelstan«, brummte er. »Sichte deine verfluchten Tatsachen.«

»Bleibt hier, Sir John«, sagte Athelstan leise, und ließ mutlos den Blick über den Kiessand wandern. »Vermutlich sind seit Mowbrays Absturz so viele hier oben gewesen, daß wir gar nichts mehr finden werden.«

Mit vorsichtigen Schritten ging Athelstan an der von Schießscharten unterbrochenen Mauer entlang. Er ging langsam und wagte nicht, in den Abgrund zu seiner Rechten hinunterzuschauen. Immer mehr spürte er die Kälte, den schneidenden Wind und ein gespenstisches Gefühl von Einsamkeit.

Der Wehrgang erstreckte sich zwischen zwei Türmen. In der Nähe des Salt Tower sah er, daß der kiesbestreute Schneematsch aufgewühlt war. Hier hatte wohl jemand längere Zeit gestanden. Athelstan untersuchte die Stelle gründlich.

»Was hast du gefunden, Bruder?« brüllte Cranston.

Athelstan kam vorsichtig zurück.

»Mowbray stand dort, wo ich gerade stehengeblieben bin. So, Sir John - wenn Ihr jetzt vorausgehen möchtet…«

Cranston ging zurück, und Athelstan folgte ihm.

»Weiter, Sir John. Bleibt auf der obersten Stufe stehen.« Cranston gehorchte mit geschlossenen Augen, denn ihm ging es inzwischen gar nicht gut.

»Was ist, Bruder?« ächzte er.

Athelstan hockte sich nieder und betrachtete aufmerksam den verstreuten Kiessand. »Ich vermute, hier ist Mowbray gefallen«, sagte er. »Aber warum? Und wie?« Er untersuchte die Schießscharten, durch die die Bogenschützen die Mauer verteidigen würden. »Seltsam«, murmelte er. »Da ist eine frische Kerbe in der Mauer, als hätte jemand mit der Axt dagegengeschlagen. Und seht nur, Sir John…« Erhob ein paar Holzsplitter auf. »Die sind frisch.«

Cranston öffnete die Augen. »Ja, Bruder, aber was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht, aber es sieht aus, als hätte jemand eine Axt mit solcher Wucht gegen die Mauer geschlagen, daß der Stein 'abgesplittert und der Holzstiel zerbrochen ist.«

Cranston schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich weiß nicht«, sagte Athelstan. »Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen Mowbrays Sturz und diesen Spuren.« Der Dominikaner warf einen mißtrauischen Blick auf Cranstons weißes, eingefallenes Gesicht, die trüben, roten Augen und bemerkte sein gefährliches Schwanken auf der obersten Treppenstufe. »Kommt, Sir John«, sagte er sanft, »hier sind wir fertig, und die Leute erwarten uns.«

Vorsichtig stiegen sie hinunter. Unten angekommen, war es Cranston gleich wohler, und er drehte sich um und strahlte Athelstan an.

»Gott sei Dank!« dröhnte er. »So was geschieht nicht jeden Tag, was, Bruder?«

Gott sei Dank hast du auch nicht jeden Tag eine solche Laune, dachte Athelstan und sah sich um. In der Garnison herrschte reges Treiben. Soldaten in halbangelegter Rüstung räkelten sich auf den Bänken; trotz der Kälte wollten sie die Sonne genießen. Einige würfelten, andere teilten sich einen Weinschlauch. Ein Küchenjunge lief mit einem Korb voll frischgekochtem Fleisch über den Platz zu einer der Küchen, wo es geräuchert, gewürzt, gepökelt und für den Winter eingelagert werden sollte. Hammerschläge hallten aus der Schmiede wie eine Glocke. Irgendwo weinte ein Kind, Sohn oder Tochter eines Soldaten. Im Außenhof befahl ein Offizier brüllend, ein Tor zu ölen. Ein Hund bellte, und aus einer der Küchen drang Gelächter. Athelstan lächelte und entspannte sich.

Man durfte die kleinen Dinge des Lebens nicht vergessen, ermahnte er sich, denn sie hielten einen bei Verstand. Er hakte sich bei Sir John unter; sie schlenderten vorsichtig durch den schmutzigen Matsch und nahmen sich in acht vor noch nicht aufgetauten Stellen.

*

Ein Wächter führte sie in den Beauchamp Tower und in Mistress Philippas Gemach im ersten Stock. Es war ein geräumiges Zimmer mit großem Erkerfenster, das zum Tower Green hinausging. Die Fensterbänke waren mit gesteppten Polstern geschmückt und die Fenster bunt verglast. Schon beim Eintreten spürte Athelstan, daß dies das Zimmer einer Frau war. Handgewebte Gobelins hingen an den Wänden; einer zeigte eine goldene Schlange im Kampf mit einem silbernen Drachen. Auf einem zweiten lächelte das Jesuskind mit ausgestreckten Armen in seiner Krippe in Bethlehem, und die Mutter Gottes stand in goldenem Kleid und einem Mantel von tiefem Himmelblau daneben. Die Backsteine waren abwechselnd weiß und rot angemalt. In großen Schränken, deren Türen halb offen standen, sah man Gewänder, Kleider, Umhänge und Kapuzenmäntel in verschiedenen Farben und Stoffen. Ein kleines Kiefemholzfeuer flackerte im Kamin. In einer Ecke stand ein Spinnrad, die Fäden straff gespannt. In der anderen war das Bett, durch einen Vorhang abgeschirmt. Ein großer, blankpolierter Tisch stand mitten im Zimmer; darauf waren Wärmpfannen mit glühender Holzkohle, Kräutern und Gewürzen verteilt. Ihr Duft erinnerte Athelstan an einen frischen Frühlingsmorgen auf dem Bauernhof seiner Eltern in Sussex. Er sah auch die Tür am anderen Ende des Raumes, die hinter einem dicken roten Teppich fast verborgen war. Athelstan grinste und zwinkerte Sir John zu. »Eine Kemenate, Mylord Coroner«, flüsterte er.

Cranston grinste, dachte aber dann an Lady Maude, und sein Gesicht wurde lang.

Mistress Philippa erhob sich, als sie eintraten. In ihrem Temperament erinnerte sie Athelstan an Benedicta, allerdings nicht im Aussehen; sie zeigte die gleiche Fassung, und er hatte den stählernen Ausdruck in ihrem Blick bemerkt. War Philippa stark und skrupellos genug, um einen Mord zu begehen?

Die anderen waren bereits versammelt; sie plauderten leise miteinander wie Leute, die den Schein zu wahren suchten, obwohl ihre Anspannung fühlbar war. Als Cranston schwerfällig durch den Raum schwankte, brach das Gespräch abrupt ab. Entweder Philippa oder die feminine Atmosphäre ihres Gemaches erinnerten Cranston an Lady Maude; jedenfalls benahm er sich dem Mädchen gegenüber plötzlich sehr streitsüchtig. »Noch so ein verdammter Mord!« donnerte er. »Was nun, he?« Geoffrey Parchmeiner, Philippas Verlobter, erhob sich und kam herüber. Er sah ängstlich aus, blasser und auch nüchterner als beim letzten Mal, da Athelstan ihn gesehen hatte.

»Ein Mord, Mylord Coroner?« stammelte er. »Wie könnt Ihr das beweisen? Ihr kommt hier hereinstolziert - in das Gemach meiner Dame - und schreit Verdächtigungen heraus, zeigt uns aber keinen Beweis. Wie sollen wir das verstehen?«

Athelstan sah sich um. Sir Fulke wirkte bedrückt und hing zusammengesunken auf seinem Stuhl. Der Kaplan hockte auf einem Schemel am Kamin, starrte in die Flammen und rang die Hände, während Rastani, der stumme, dunkle Diener, mit dem Rücken an der Wand saß, als sollten die Steine sich auftun und ihn verschlucken. Fitzormonde, der andere Hospitaliter, stand mit gefalteten Händen am Fenster und starrte zu Boden, als habe er Cranston noch gar nicht bemerkt. Colebrooke wirkte verlegen, tappte mit dem Fuß auf den Boden und pfiff lauüos vor sich hin.