Der Ordensbruder stampfte in seinen Sandalen auf und blies sich die frierenden Finger. Dann raffte er Tintenhorn, Feder, Astrolabium und Pergamentrolle zusammen, hob die Falltür und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. In der Kirche war es eiskalt und finster. Mit etwas Zunder entfachte er die Kienspäne vor der Statue Unserer Lieben Frau, die Fackeln im Kirchenschiff und die dicken, weißen Bienenwachskerzen auf dem Altar. Athelstan ging die Altarstufen hinunter und unter dem neugeschnitzten Chorgitter hindurch, das Huddle gerade mit einem Tableau bemalt hatte: Christus führte die Seelen aus dem Fegefeuer. Athelstan bewunderte die kraftvollen grünen, roten, blauen und goldenen Pinselstriche des Malers.
»Der junge Mann ist ein Genie«, brummte er und trat zurück, um die Figuren genauer zu betrachten. Er wünschte bloß, Huddle wäre ein bißchen zurückhaltender in der Darstellung einer jungen Lady gewesen, deren runde, strotzende Brüste die Hure Cecily als ihre eigenen erkannt hatte.
»Na, dann laß mal sehen!« hatte Tab, der Kesselflicker, gerufen, bevor Ursula, die Schweinebäuerin, ihm einen spitzen Ellbogen in die Rippen gestoßen hatte.
Athelstan schüttelte den Kopf und ging hinüber, um sich die Hände über dem kleinen Holzkohlenbecken zu wärmen, das mit seiner Glut die eiskalte Nachtluft ein wenig linderte. Er blickte auf das Kirchenschiff und sah die immergrünen Zweige von Stechpalmen und Efeu, die die Frau von Watkin, dem Mistsammler, um die dicken Pfeiler gewunden hatte. Athelstan war zufrieden. Das Dach war geflickt, die Fenster mit Horn verglast. »Jetzt sieht’s schon eher wie eine Kirche aus«, brummte er, »und nicht mehr wie ein langer dunkler Tunnel mit Löchern in den Wänden.« Bald wäre die Adventszeit vorüber. Das Grün sollte den neugeborenen Christus begrüßen. »Immergrün«, murmelte der Bruder, »für unseren immergrünen Herrn.« Ein kleiner Schatten strich durch den dunklen Gang herauf.
»Du weißt immer, wann der Zeitpunkt günstig ist, Bonaventura.«
Der große Kater tappte herüber, blieb vor Athelstan stehen, streckte sich und rieb sich dann bettelnd an der schwarzen Kutte des Bruders. Athelstan schaute zu ihm hinunter.
»Hier gibt’s keine Mäuse«, sagte er leise. »Gott sei Dank.«
Nie würde er vergessen, wie Ranulf, der Rattenfänger, heimlich Fallen in der Binsenstreu auf dem Fußboden versteckt hatte, und Cecily eines Morgens, als sie hier saubergemacht hatte, mit der Zehe hineingeraten war. Athelstan war seit dreißig Jahren auf der Welt und auch Soldat gewesen, aber noch nie hatte er derart saftige Flüche gehört, wie sie sich da aus Cecilys hübschem Munde ergossen hatten.
Der Bruder bückte sich und hob den Kater auf. Er betrachtete das runde, schwarzweiße Gesicht und die zerfransten Ohren. »Bonaventura, der große Mauser«, murmelte er. »Bist du gekommen, um dir deinen Lohn zu holen?« Athelstan ging in einen der dunklen Transepte und nahm eine Schale mit gefrorener Milch und kleingeschnittenen Sprotten vom Fenstersims. »Wessen Leben ist lohnender, Bonaventura?« fragte er, während er sich hinhockte, um das Tier zu füttern. »Das eines Katers in Southwark oder das eines Dominikanermönchs, der die Sterne liebt und im Schlamm rackem muß?«
Der Kater blinzelte ihn an, ließ sich nieder und fraß. Mit einem Auge blickte er wachsam zum Fuß einer Säule, denn dort, wo die Binsen etwas dichter aufgeschüttet waren, raschelte es leise. Athelstan kehrte zur Altartreppe zurück, kniete nieder, bekreuzigte sich und begann mit dem ersten Gebet des Gottesdienstes. »Veni, veni, Emmanuel!« Komm, oh, komm, Emmanuel.
Wann würde Christus wohl wiederkommen? fragte Athelstan sich. Um Wunden zu heilen und Gerechtigkeit zu üben… Nein. Er schloß die Augen. Er hatte sich geschworen, nicht an Cranston zu denken - nicht an das fette, rote Gesicht und den kahlen Schädel, nicht an die boshaften blauen Augen und den mächtigen Wanst, der einen ganzen Weinberg trockensaufen konnte. Die alte Geschichte vom Teufel fiel ihm ein, der all die halbherzigen Gebete der Priester sammelte und jedes fehlende Wort in einem Sack aufhob, den er dann beim Jüngsten Gericht ausschütteln würde. Athelstan schloß die Augen und atmete tief. Er beendete seine Psalmen und ging in die kleine, eiskalte Sakristei. »Heute keine purpurnen Gewänder«, sagte er sich und klappte das große Meßbuch auf. »Heute ist das Fest der heiligen Lucia.« Er schloß den verschrammten Schrank auf und nahm das goldüberzogene, mit einem scharlachroten Kreuz bestickte Meßgewand heraus. Im Gegensatz zu dem muffigen Schrank war das Meßgewand neu und duftete zart. Bewundernd betrachtete er die Handarbeit und dachte an die Künstlerin, die Witwe Benedicta. »So schön wie sie«, murmelte er. »Vergib mir, vergib«, bat er flüsternd und sprach dann die Gebete, die jeder Priester beim Ankleiden zur heiligen Messe sprechen muß.
Athelstan kannte sich. Er kannte die dunklen Schatten in seiner Seele, die sich zu erheben und seine morgendliche Routine zu stören drohten. Er durfte nicht an sie denken. Das kleine Sakristeifenster klapperte, als der Fensterladen dagegen schlug. Athelstan schrak auf. Noch lag Dunkelheit über dem Friedhof, dem Gottesacker mit seinen zerbrochenen Holzkreuzen, die Erdhügel bewachten, unter denen die Vorfahren der braven Leute seiner Gemeinde den ewigen Schlaf schliefen und auf Christi Wiederkunft warteten. Aber Athelstan wußte, daß da draußen noch etwas anderes lauerte, etwas Dunkles, Böses, das die schreckliche Blasphemie beging, Tote aus der Erde zu zerren.
Der Bruder schüttelte seine morbiden Tagträume ab. Er öffnete die Kassette und nahm Kelch und Patene heraus. Er legte weiße Hostien auf den Teller und füllte den Kelch zur Hälfte mit Meßwein. Dann hob er den Weinkrug in die Höhe und beäugte mißtrauisch den Inhalt.
»Es sieht so aus«, verkündete er in die leere Dunkelheit, »als unternähme unser Sakristan, Watkin, der Mistsammler, hier kleine Weinproben.« Er füllte die Wasserschüssel für das Lavabo, jenen Teil der Messe, wo der Priester seine Sünden abwäscht, und starrte auf das Wasser, auf dem dünne Eissplitter schwammen. »Was für Sünden?« flüsterte er. Das Alabastergesicht der Witwe Benedicta hinter dem Schleier ihres blauschwarzen Haars kam ihm in den Sinn, und er merkte, wie Bonaventura an seinem Bein vorbeistrich. »Keine Sünde«, flüsterte er dem Kater zu. »Bestimmt ist das keine Sünde! Sie ist eine Freundin, und ich bin einsam.« Er holte tief Luft. »Du bist ein Trottel, Athelstan«, knurrte er. »Du bist Priester - also was erwartest du?« Und er dachte weiter darüber nach, während er sich ankleidete. Er hatte dem Pater Prior gebeichtet - aber warum war er einsam? Trotz seines Jammems wollte Athelstan von seiner Gemeinde und den Menschen, denen er diente, geliebt werden. Es war sein zweites Amt als Schreiber bei Sir John Cranston, dem Coroner, das ihn bedrückte. Und warum? Geistesabwesend hob Athelstan den Kater hoch und streichelte ihn. Mit den gewaltsamen Todesfällen, mit dem Blut und den klaffenden Wunden konnte er zurechtkommen. Etwas anderes ließ ihm das Blut gefrieren: die geplanten Morde, kühl berechnet von Seelen, die gefangen waren in der schwarzen Nacht der Todsünde. Athelstan spürte, daß wieder ein solches Geheimnis nahte. Irgend etwas warnte ihn, ein sechster Sinn, als warte das Böse, das auf dem einsamen Friedhof lauerte, nur darauf, ihm entgegenzutreten. Er gab Bonaventura einen Kuß auf den Kopf. »Ich muß die Messe lesen.«
Athelstan ging zurück in die Kirche, blickte hoch und sah den ersten Schimmer des Morgengrauens hinter den Hornscheiben der Fenster. Ihn schauderte. Trotz der Kohlebecken war es mörderisch kalt. Er trat an den Altar und schaute hinüber zu der Pyx mit dem heiligen Sakrament, Christus in der Gestalt des Brotes, unter ihrem goldenen Baldachin; eine einsame Kerze auf dem Altar war Symbol für die Gegenwart Gottes. Hinter ihm flog krachend die Tür auf, und Mugwort, der Glöckner, kam hereingewatschelt, den kahlen Kopf und die zitternden roten Wangen unter wollenen Lumpen verborgen.