»Ihr geht nach Hause?«
Sir John starrte in die Dunkelheit. Gern hätte er das getan, aber wozu? Er würde nur dasitzen und sich um den Verstand saufen. »Sir John«, wiederholte Athelstan, »Lady Maude wartet schon auf Euch.«
»Nein«, antwortete Cranston störrisch. »Ich gehe mit zum Gefängnis. Vielleicht kann ich helfen.«
Athelstan warf Benedicta einen Blick zu und verdrehte dann die Augen gen Himmel. Gern wäre er Sir John losgeworden; er hatte die dauernde schlechte Laune und die jähen Tobsuchtsanfälle des Coroners satt. Er liebte den fetten Edelmann, aber jetzt hätte er ihn zu gern von hinten gesehen. Trotzdem willigte er ein.
Sie stapften durch den blutbespritzten Schneematsch der Shambles und hielten sich vor dem ekelhaften, fauligen Gestank aus dem Schlachthaus die Nase zu. Dann ging es nach links in die Old Deans Lane, eine schmale Gasse, wo der Spülicht knöcheltief zwischen den dunklen, überhängenden Häusern dahinfloß. In der Feme bellte traurig ein Hund. An der Ecke der Bowyers Row mußten sie einem großen Holzkarren ausweichen, der von vier Pferden mit gestutzten Mähnen und Scheuklappen gezogen wurde. Ihre Nüstern blähten sich im Verwesungsgeruch des Todes. Die Hufe der Pferde und die Räder des Karrens waren mit Stroh umwickelt, und das Gespann schien vorüberzugleiten wie ein grausiger Spuk. Auf einer Ecke des Karrens steckte eine lodernde Fackel und beleuchtete den Kutscher wie ein gespenstisches Relief; vermummt und verhüllt hockte er da, eine grimmige Todesmaske vor dem Gesicht.
»Was ist das?« fragte Benedicta.
Sie hob ihren Mantelsaum vor die Nase. Athelstan schlug ein Kreuz und betete, der Karren möge weiterfahren, aber er blieb neben ihnen stehen. Der Kutscher versuchte, die Pferde zu beruhigen, als zwei kreischende Katzen, die sich um irgendwelches Ungeziefer balgten, aus dem Schatten hervorschossen. Cranston wußte, was auf dem Karren war; er hatte in dem Kutscher den Henker von Tyburn erkannt.
»Nicht hin schauen«, flüsterte er.
Aber Benedictas Neugier war geweckt; sie stützte sich auf Athelstans Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte über den Rand des Karrens. Entsetzt erblickte sie weiße, gefrorene Kadaver unter einer zerfetzten Segeltuchplane. Die Glieder waren merkwürdig verdreht; um den Hals hatte jeder einen dicken, purpurroten Strich, und ihre ebenso leuchtendroten Gesichter waren verzerrt. Geschwollene Zungen klemmten zwischen eiskalten Lippen, und von den Augen war nur das Weiße zu sehen. »Oh, gütiger Gott!« hauchte sie und lehnte sich an die Hauswand. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und der Karren rollte weiter.
»Was war das?«
»Die Gehenkten von The Elms«, sagte Cranston. »Nachts werden die Leichen abgeschnitten und in die großen Kalkgruben am Kartäuserkloster gekippt.« Er funkelte die Witwe erbost an. »Ich habe Euch doch gesagt, Ihr sollt nicht hinsehen!« Benedicta würgte und folgte Cranston, auf Athelstans Arm gestützt, durch Ludgate zum Gefängnis.
Der Kerker verbesserte ihre Stimmung nicht. Hinter grauen, düsteren Mauern lugten ein paar finstere Gebäude hervor, und ein schwarzes Tor gähnte vor ihnen wie ein Rachen, der jeden Unglücklichen verschlucken wollte. Cranston zog am Glockenseil, und man ließ sie zu einem Pförtchen herein, das in das mächtige Tor eingelassen war. Ein Wärter führte sie zum Pförtner, der, als er Sir John erkannte, katzbuckelte und einen Kratzfuß nach dem anderen machte. Jetzt war Athelstan doch froh, daß der Coroner dabei war. Sie durchquerten eine große Halle, wo die Schuldhäftlinge eingesperrt waren; Bänke und zwei lange Tische aus Eichenholz waren mit fettigem Schmutz überzogen.
Die Leute, die an diesen Tischen saßen, waren dreckig und stanken; Männer wie Frauen trugen fadenscheinige Wämse und zerlumpte Mäntel.
Die drei eilten durch die Halle und einen mit Stein ausgelegten Gang hinauf, vorbei an vergitterten Fenstern, wo arme Schuldner ihre Bettelschalen schüttelten und um Almosen winselten. Schließlich ging es über eine schmierige, geborstene Treppe hinunter in die Halle der Verdammten, einen massiven Gewölbekeller, in dessen hintere Wand die Kerkerzellen für die Todgeweihten eingelassen waren.
»Wen wollt Ihr sprechen?« fragte der Pförtner.
»Simon, den Zimmermann.«
Der Pförtner kramte einen Schlüssel hervor und schloß eine der Kerkertüren auf.
»Los, Simon!« brüllte er hinein. »Eine seltene Gunst! Der Coroner der Stadt London, ein Ordensbruder und eine schöne Dame! Was kann man mehr verlangen?«
Simon kam aus der Zelle gekrochen. Athelstan erkannte ihn kaum wieder: Sein Gesicht war voller Geschwüre, sein Haar lang und verfilzt und voller Ungeziefer. Seine Kleider hingen in Fetzen, und er trug schwere Ketten. Mühsam kam er auf sie zugeschlurft und hob die gefesselten Hände, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Seine Lippen waren blau vor Kälte, und die Augen über den gelben, eingefallenen Wangen glänzten fiebrig.
»Pater, bringt Ihr mir einen Gnadenbescheid?« fragte er hoffnungsvoll.
Athelstan schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Ich bin nur gekommen, um dich zu besuchen, Simon. Kann ich etwas für dich tun?«
Der Zimmermann sah erst ihn, dann Benedicta an; plötzlich warf er den Kopf in den Nacken und lachte hysterisch, bis der Kerkermeister ihm ins Gesicht schlug. Der Verurteilte sackte zu Boden und kauerte dort wie ein geprügelter Hund. Athelstan kniete neben ihm.
»Simon!« murmelte er. »Simon!«
Der Zimmermann hob den Kopf.
»Willst du die Absolution? Ich nehme dir die Beichte ab.«
Der Mann sah ihn verzweifelt an.
»Es ist nicht mehr zu ändern«, flüsterte Athelstan. »Morgen um diese Zeit, Simon, bist du bei Gott.«
Der Zimmermann nickte und begann zu weinen wie ein Kind. Athelstan drehte sich um.
»Sir John, Benedicta - bitte, laßt mich einen Augenblick mit ihm allein.«
Die beiden zogen sich zurück; der Coroner befahl dem Wärter, ihnen zu folgen, und zum zweitenmal an diesem Tag nahm Athelstan einem zum Tode Verurteilten die Beichte ab. Zu Anfang sprach Simon sehr langsam, und Athelstan hatte große Mühe, Haltung zu bewahren, denn die Kälte des Verlieses drang durch seine Kutte und verwandelte seine Beine in Eisblöcke. Aber dann ließ Simon seinen Gefühlen freien Lauf. Er sprach alles aus - eine jammervolle Litanei des Scheitems, deren Höhepunkt die Vergewaltigung eines Kindes war. Athelstan hörte ihm zu, erteilte ihm die Absolution und erhob sich. Er rieb sich die steifen Beine, um das Leben zurückzubringen, und der Wärter kam heran.
»Morgen, Simon«, flüsterte Athelstan. »Ich werde an dich denken. Und - Simon?«
Der Verurteilte blickte auf.
»Wenn du vor dem Thron Gottes stehst, denke an mich.«
Der Zimmermann nickte. »Ich wollte es nicht tun, Pater. Ich war einsam, und ich hatte zuviel getrunken.«
»Ich weiß«, sagte Athelstan leise. »Gott helfe dir und ihr!« Er drehte sich nach dem Wärter um und warf ihm eine Silbermünze zu. »Eine gute Mahlzeit für ihn, Sir.«
Der Wärter fing die Münze und nickte.
»Eine gute«, wiederholte Athelstan. »Ich frage nach, vergiß das nicht.«
Er wollte gerade gehen, als Simon ihn rief. »Pater?«
»Ja, Simon?«
»Ranulf, der Rattenfänger, war heute hier. Ein Metzger in den Shambles hatte ihn kommen lassen. Er sagte, Ihr wart im Tower wegen Sir Ralph Whittons Tod.« Der Zimmermann grinste. »Ich habe zwar gerade gebeichtet, aber es ist doch gut zu wissen, daß dieser Dreckskerl vor mir dahingefahren ist. Ein seltsamer Ort, der Tower, Pater.«
Athelstan nickte. Er hatte das Gefühl, Simon wollte den Besuch in die Länge ziehen.
»Ich habe da mal gearbeitet«, sagte der Zimmermann. »Ein seltsamer Ort. Schlimmer als dieser hier.«
»Warum, Simon?«
»Hier haben die Zellen wenigstens Türen. Im Tower gibt es Räume, Verliese, da geht man rein, und dann werden die Türen zugemauert, und man sitzt bis zum Tod hinter einer Mauer aus Stein.«