»Ist das wahr?« Athelstan lächelte. »Gott sei mit dir, Simon.«
Er ging die Treppe hinauf zu Cranston und Benedicta. Keiner sprach ein Wort, bis sie das Gefängnis verlassen hatten und die Pforte hinter ihnen ins Schloß gefallen war.
»Der Vorraum der Hölle«, murmelte Athelstan, als sie im Schatten der dunklen St.-Pauls-Kirche die Bowyers Row hinuntergingen. Bei der Friday Street wollte Sir John sich verabschieden. Athelstan nahm ihn beiseite und schaute ihm in die traurigen Augen.
»Ich danke Euch, daß Ihr mitgekommen seid, Sir John. Geht in Frieden und sprecht mit Lady Maude; ich bin sicher, es wird alles gut.«
Cranston kratzte sich am Kopf. »Wer weiß, Bruder - aber das einzig Gute, was ich heute getan habe, war, Fitzormonde zuzuhören und diesem Kind zu helfen. Du weißt schon, dem Kleinen bei dem toten Bettler.«
»Und Ihr seid mit uns ins Gefängnis gekommen.«
»Aye«, brummte Cranston. »Ein Pardon für Simon konnte ich nicht erwirken; aber eine letzte Gnade.«
»Was heißt das, Sir John?«
»Ich habe eine Münze für den Henker dagelassen. Simon wird nicht tanzen. Man wird ihn sehr hoch auf die Leiter steigen lassen.« Cranston schnippte mit den Fingern. »Es wird ihm das Genick brechen, und alles ist sehr schnell vorbei.« Der Coroner stampfte mit den Füßen und schaute in den sternenklaren Himmel. »Mach jetzt, daß du nach Hause kommst, Bruder. Die Sterne warten auf dich.« Er wandte sich ab und stapfte die Straße hinauf. »Ich wünschte bloß«, rief er im Gehen, »wir hätten den Ratsherrn Horne gefunden!«
9. Kapitel
Während Athelstan und Benedicta langsam das dunkle, wilde Wasser der Themse überquerten und nach Hause gingen, verließ Adam Horne das Kloster der Gekreuzigten Brüder an der Mark Lane, an der Nordseite des Tower. Er war gleich nach der Vesper angekommen, um die Botschaft abzuholen, die ihn dort erwarten sollte. Der grauhaarige Laienbruder hatte zahnlos gegrinst und ihn in das Pförtnerhäuschen gewinkt.
»Das liegt schon den ganzen Nachmittag hier«, hatte der Bruder gemurmelt und ihm eine dünne Pergamentrolle gereicht. Bang hatte Horne das Pergament entrollt, den Bruder um eine Kerze gebeten und dann hastig gelesen, was darauf stand.
»O mein Gott!« Er stöhnte, als er seine Hoffnungen zerstört sah. Am Vormittag hatte er ein Stück Pergament mit einem grob gezeichneten Schiff und einen flachen Sesamkuchen bekommen. Er hatte versucht, seine Angst vor seiner armen Frau zu verbergen, und war zum Speicher hinuntergegangen, wo ihn die nächste Nachricht erwartet hatte: Er solle nicht nach Hause gehen, wies ihn der kurze Brief an, sondern sich zum Haus der Gekreuzigten Brüder begeben. Dort würden seine Befürchtungen vertrieben werden. Er solle sich nicht fürchten, sondern auf den Absender des Schreibens vertrauen, der ihm wohlgesonnen sei. Nun zerschlug diese kurze Notiz grausam alle seine Hoffnungen: Der geheimnisvolle Schreiber entschuldigte sich, weil er ihn nicht habe treffen können, und bat ihn, in den alten Ruinen nordwestlich des Tower zu warten. Horne zerriß den Brief, verließ das Kloster und wanderte über dunkle, eisbedeckte Landstraßen, die um Bauernhöfe und Katen herumführten. Er schaute zum sternenübersäten Himmel hinauf, und es fröstelte ihn - daran war nicht nur die beißende Kälte schuld, sondern auch seine düstere Angst vor dem, was ihn erwarten mochte. Sein gesunder Menschenverstand drängte ihn wegzulaufen, aber er hatte schon zu lange gewartet. Seit Jahren hing die Drohung wie ein Schwert über seinem Kopf, und er wollte ihr ein für allemal gegenübertreten. Als selbstbewußter Kaufmann glaubte Horne außerdem, daß diese Begegnung seine Angst zu einem guten Ende bringen könnte. Danach würde er, befreit von seinem Teil der Schuld an jenem schrecklichen Verbrechen, das vor so vielen Jahren begangen worden war, nach Hause gehen. Die Baumreihe endete, und Horne stand am Rand der Gemeindewiese; in der Ferne ragte der riesige Tower. Vielleicht sollte er dorthin gehen? Er seufzte verzweifelt. Wer konnte ihm helfen? Sir Ralph war tot, und der überlebende Hospitaliter hätte sicher keine Zeit für ihn. Horne schluckte, als ihm die eigene Schuld zu Bewußtsein kam. Sollte er weitergehen? Er schaute auf den eisbedeckten Boden und lauschte mit halbem Ohr auf den kalten Wind, der leise in den Bäumen stöhnte. Über ihm krächzte ein Rabe, der zu den Schlickbänken am Fluß flog, um zu jagen. Ein Fuchs kläffte so schrill, daß ihm das Nackenhaar zu Berge stand. Er drehte sich um und starrte beklommen den schlammigen Weg hinunter. War da jemand? Wurde er verfolgt? Horne verzog das Gesicht zur Grimasse. Heute mochte er ein fetter, reicher Kaufmann sein, aber vor fünfzehn Jahren hatte er als Ritter gekämpft, Schulter an Schulter mit Männern, die nichts auf der Welt fürchteten. Ja, er hatte Schuld auf sich geladen, ebensoviel wie Whitton. Fitzormonde und Mowbray waren immer Waschlappen gewesen; sie hatten gewinselt und geheult, sie träfe keine Schuld. Aber Horne war mit Whittons Plan einverstanden gewesen und hatte sich aus dem Gewinn ein blühendes Geschäft aufgebaut.
Er betastete den langen Dolch, den er in seinem Beutel verbarg; der drahtumwickelte Griff gab ihm Zuversicht. Wenn ein Mörder es auf ihn abgesehen hatte, beruhigte er sich, dann war es besser, ihm gegenüberzutreten statt sich in dunkler Nacht überraschen zu lassen. Eine Eule schrie. »Sollen doch alle Höllenhunde aus des Satans finsteren Abgründen heraufkommen«, knurrte Horne. »Ich werde keinen Hieb schuldig bleiben!« Seine leeren Worte trösteten ihn, als er auf die Ruinen zuging, eine Ansammlung schneebedeckter Steinblöcke. Die Alten sagten, der große Caesar habe hier einen Palast gehabt. Zutiefst aufgewühlt von Angst, Grauen und gezwungener Tollkühnheit, setzte Horne sich zwischen die Ruinen. Gleich fühlte er sich sicherer; es war zwar dunkel, aber die verschneite Gemeindewiese und das spröde Eis würden ihn warnen, wenn ein Mörder sich näherte.
Der Kaufmann schaute sich in den Ruinen der römischen Villa um. Ein paar Schritte entfernt stand eine halbhohe Mauer. Horne betrachtete sie verächtlich. Ein Mörder, der dort lauerte, würde die freie Fläche überqueren müssen, und Horne hatte etwas Besonderes mitgebracht. Eine kleine Armbrust baumelte an seinem Gürtel, und der Bolzen war bereits an seinem Platz. Die Dunkelheit wuchs. Horne konzentrierte sich auf die Lichter in der Feme. Der Wein, den er getrunken hatte, die Angst und die Anstrengungen ließen ihn warm und schläfrig werden. Eine kurze, eiskalte Windbö ließ ihn sich fester in seinen Mantel wickeln, und er versuchte, das warme Blut in seinen Adern im Fluß zu halten. Er starrte in die Finsternis, und sein Mut begann zu verebben, während er sich fragte, wer sein seltsamer Wohltäter wohl sein mochte. Er schloß die Augen, schlief halb, döste. Das hatte Bartholomew Burghgesh ihm immer geraten.
»Ruhe dich aus, wann immer du kannst, mein lieber Adam. Ein echter Soldat ißt, trinkt, schläft und nimmt sich ein Weib, wann immer sich Gelegenheit bietet.«
Horne lächelte. Tapferer, furchterregender Mann! Ein wahrer Paladin! Horne hatte ihn gemocht, aber Ralph Whitton war immer eifersüchtig gewesen, weil Bartholomew der bessere Soldat war. Doch sicher hatte mehr dahinter gesteckt…? Irgend etwas mit Whittons Frau, die wohl ziemlich verschossen in den jungen Bartholomew war, als der eine Zeitlang als Fähnrich im Tower gedient hatte. Horne kicherte. Seltsamer Zufall - genau dort hatte Whitton den Tod gefunden.
Er blickte auf. Hatte er da ein Geräusch gehört? Er saß ganz still und spitzte die Ohren, aber nur das Krächzen der Raben und das Gebell eines Hofhundes drangen durch die eisige Stille. Horne scharrte rastlos mit den Füßen. Ein paar Minuten würde er noch warten, und dann würde er gehen. Er schaute zu Boden. Wer war der Mörder? Könnte es der Hospitaliter Fitzormonde sein? Oder Fulke, Sir Ralphs Bruder? Der hatte Burghgesh ziemlich gut gekannt. Oder jemand anderes, der sich für den Stellvertreter Gottes auf Erden hielt und Recht und Vergeltung übte? Vielleicht hatte Burghgesh auch überlebt, war in Gefangenschaft geraten und Jahre später nach England zurückgekehrt, um seine Feinde blutig zu vernichten? Oder vielleicht sein Sohn und Erbe? War der wirklich in Frankreich gestorben? Oder hatte er vom schrecklichen Schicksal seines Vaters erfahren und war heimlich zurückgekommen, um die Mörder seines Erzeugers aufzuspüren?