Horne kniff den Mund zusammen. Er mußte der Tatsache ins Auge sehen, daß er ein Mörder war; er hatte mitgeholfen, Burghgesh umzubringen. Manchmal ließ ihn dieser Gedanke nachts schreiend aus dem Schlaf fahren. Hatte Gott ihm vielleicht deshalb den Sohn und Erben verweigert? War die Unfruchtbarkeit seiner Frau Ergebnis göttlicher Gerechtigkeit? Horne hörte ein Geräusch. Entsetzt sprang er auf und starrte auf die Gestalt vor der Ruinenmauer.
Ein Mann in Ritterrüstung, auf der Brust das rote Kreuz der Kreuzritter, und das Gesicht verborgen unter diesem Helm! Die gleiche stählerne, spitze Haube mit den Adlerschwingen rechts und links und dem blauen Federbusch. Kaltes Grauen erfaßte Hornes Herz.
»Mein Gott!« flüsterte er. »Es ist Burghgesh!«
Oder war es eine Erscheinung aus der Hölle? Die gepanzerte, behelmte Gestalt stand da, die Beine leicht gespreizt, und eiserne Fäuste umschlossen den Griff des großen Schwertes, dessen Klinge auf der Schulter ruhte.
»Bist du Burghgesh?« zischte Horne.
Die Erscheinung kam näher. Nur das Knirschen der gepanzerten Füße auf dem harten Eis war zu hören.
»Adam! Adam!« Die Stimme gehörte Burghgesh, klang aber düster und hohl. »Adam!« rief die Stimme noch einmal. »Ich bin zurückgekehrt, um mich zu rächen. Du, mein Waffengefährte, mein Freund, für den ich mein Leben gegeben hätte …« Eine eiserne Hand deutete auf ihn. »Du hast mich verraten! Du, Whitton und die anderen!«
Hornes Hand fuhr zu der kleinen Armbrust, die an seinem Gürtel hing.
»Du bist kein Phantasiegebilde!« fauchte der Kaufmann. »Und wenn doch, fahre zurück zur Hölle, wohin du gehörst!«
Er hob die Armbrust, doch im selben Augenblick sauste das zweischneidige Schwert wie eine Sense durch die Luft und trennte sauber den Kopf des Kaufmanns von den Schultern. Der Kopf flog wie ein Ball durch die Luft, und die Lippen bewegten sich noch. Der Körper stand da wie ein Springbrunnen, der rotes, heißes Blut versprühte, dann sackte er auf das blutbespritzte Eis. Der Henker in seiner Rüstung wischte sorgfältig sein Schwert ab, zog ein Messer und kniete neben dem blutenden Torso seines Opfers nieder.
*
Ein paar Stunden später stapfte Sir John Cranston, knurrend und fluchend, von der Blind Basket Alley durch die Mincing Lane zur Fenchurch Street hinauf. Der Morgen graute eben, und weil er nicht hatte schlafen können, war er früh aufgestanden, um sich mit dem Ratsherrn Venables über den wegen Mordes an seinem Herrn gesuchten und immer noch verschwundenen Roger Droxford zu beraten. Sir John hatte sich in seinem großen Doppelbett von einer Seite auf die andere geworfen und eine ruhelose Nacht verbracht. Er hatte versucht, ruhig zu bleiben, aber das unerschütterliche Schweigen, das Maude seinem Flehen und seinen Fragen entgegensetzte, ließ ihn vor Wut kochen: Sie nagte immer nur an ihrer Lippe, schüttelte den Kopf und wandte sich unter Tränenfluten ab. Schließlich war Cranston aufgestanden und in sein Schreibzimmer gegangen; weil er sich nicht konzentrieren konnte, hatte er sich schließlich angezogen und war losgegangen, um Venables aus dem Bett zu holen. Cranston grinste boshaft. Es machte Spaß, den braven Ratsherren spüren zu lassen, wie es war, vor Tagesanbruch geweckt zu werden. Aber der verschlafen dreinblickende Ratsherr konnte ihm nichts Neues von Droxford berichten.
»Weit kann er nicht geflohen sein, Sir John«, murmelte Venables. »Bei diesem Wetter würde nur ein Narr versuchen, die Stadtgrenze hinter sich zu lassen, und außerdem sind seine Beschreibung und die ausgesetzte Belohnung überall angeschlagen.« Venables grinste. »Schließlich ist er ein Mann, an den man sich erinnern würde.«
»Was meint Ihr damit?«
»Nun, an der einen Hand fehlen ihm zwei Finger, und im Gesicht hat er lauter behaarte Warzen.« Der Ratsherr zog den pelzverbrämten Hausmantel fester um die Schultern, trat auf dem Steinboden unruhig von einem Bein aufs andere und gab dem Coroner zu verstehen, daß er verschwinden solle. »Was ist überhaupt so Besonderes an Droxford, Sir John?«
»Er ist etwas Besonderes, Master Venables, weil er ein Mörder ist und ein Verbrecher, der seinem Herm über zweihundert Pfund gestohlen hat, und weil es so aussieht, als käme er ungeschoren davon!«
Venables warf einen Blick in Cranstons wütendes Gesicht und pflichtete ihm sofort bei. Sir John stapfte davon und fluchte leise über Amtsträger, denen anscheinend alles egal war. Aber im Grunde seines Herzens wußte er, daß er ein Heuchler war. Die Angelegenheit im Tower war immer noch geheimnisvoll. Der geflohene Droxford - von dem fahrlässigen Ratsherrn ganz zu schweigen - bot ihm nur eine willkommene Gelegenheit, seine schlechte Laune auszutoben.
Er bog in die noch verlassene Lombard Street ein und kam zu dem großen Pranger vor der Poultry. Ein paar Büttel standen um einen Bettler, der dort eingeschlossen war. Füße und Hände klemmten zwischen den schweren Balken, das Gesicht war blaugefroren, die Augen offen.
»Was ist hier los?« polterte Cranston.
Die Büttel traten von einem Bein aufs andere.
»Irgend jemand hat gestern abend vergessen, ihn herauszulassen«, antwortete einer von ihnen. »Das arme Schwein ist erfroren.«
»Dann wird ein anderes Schwein dafür bezahlen!« brüllte Sir John und ging die breite Hauptstraße hinauf zu seinem Haus. Eine verängstigt aussehende Magd machte ihm die Tür auf. Sir John blieb plötzlich stehen, und seine Augen wurden schmal. Hatte er da nicht einen Schatten in der Gasse neben dem Haus gesehen? Er ging zurück. Nichts. Cranston schüttelte den Kopf, schwor sich, weniger zu trinken und rauschte an der bang blickenden Magd vorbei in die Küche. Gott sei Dank, Maude war nicht da. Er hatte die Auseinandersetzungen mit ihr satt. »Irgendwelche Nachrichten für mich?« kläffte er den bedrückt aussehenden Leif an, der immer noch an seinem Lieblingsplatz neben dem Kamin hockte. Der einbeinige Bettler schaute von einer Schüssel mit Gemüse und Würzfleisch hoch und schüttelte den Kopf.
»Nein, Sir John«, antwortete er. »Aber ich habe die Zinntöpfe poliert.«
»Gut«, knurrte der Coroner. »Wenigstens einer in dieser Stadt, der arbeitet.«
Er goß sich einen großzügig bemessenen Becher Wein ein und nahm ein kleines Weißbrot, das die Köchin zum Auskühlen auf den Küchentisch gelegt hatte. Er brach Stück für Stück davon ab und trank geräuschvoll aus seinem Becher; dabei starrte er wütend ins Kaminfeuer. Was sollte er tun? Die Morde an Whitton und Mowbray im Tower waren so rätselhaft wie eh und je, und Horne hatte er nicht auftreiben können. Sir John wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, wann die Herren im Rathaus - oder, schlimmer noch, der Regent im Savoy-Palast - von ihm Rechenschaft verlangen würden. Es klopfte heftig an der Tür.
»Los, Leif«, knurrte Cranston. »Mir ist zu kalt, um hinzugehen, verdammt!«
Leif schaute ihn mitleidheischend an.
»Los, du fauler Hund!« brüllte Cranston. »In diesem Hause wird nicht bloß auf dem Arsch gesessen und sich das Maul vollgestopft mit jedem Bissen, den du in deine klebrigen Finger kriegst!«
Leif seufzte, stellte seine Schüssel hin und humpelte zur Tür hinaus. Cranston hörte, wie die Tür aufging, dann kam der Mann langsam zurückgehinkt.
»Was gibt’s?« Gutmütig zwinkerte Cranston der Magd zu, die ebenfalls zur Tür gelaufen war. Das Mädchen lächelte ängstlich zurück, und Cranston verfluchte sich im stillen. Mit seinem Jähzorn versetzte er jeden in Angst und Schrecken. Er mußte sich besser beherrschen. Vielleicht sollte er Athelstan bitten einzugreifen? »Also«, drängte er. »Wer war da?«