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»Nicht, wenn wir bei unserer Schlußfolgerung bleiben«, erwiderte Athelstan. »Daß nämlich jemand den zugefrorenen Wassergraben überquert hat und über die Trittstufen in der Mauer zu Sir Ralphs Kammer hinaufgeklettert ist. Der Mörder schob den Riegel der Fensterläden hoch, stieg hinein und beging das Verbrechen. Allerdings ist auch unsere Schlußfolgerung nicht unproblematisch. Wieso nämlich ist Sir Ralph einfach liegengeblieben und hat sich die Kehle durchschneiden lassen? Er war Soldat, ein Kämpfer.« Der Ordensbruder schüttelte den Kopf. »Wir wissen nur, daß der Mörder zu jenen Bewohnern des Tower gehören muß, die wußten, daß Sir Ralph umgezogen war; entweder hat er oder sie den Mord dann eigenhändig begangen oder dafür einen Berufsmörder angeheuert.« Athelstan schaute hinüber zu einer Gruppe Würfelspieler, die am anderen Ende des Schankraumes lärmten.

»Und der Mord an Sir Gérard Mowbray«, stellte Cranston fest, »ist auch nicht klarer. Wer hat die Sturmglocke geläutet? Wie ist Mowbray abgestürzt? Hornes Ermordung«, fuhr er fort, »sieht dagegen relativ einfach aus. Der Mörder machte sich sein schlechtes Gewissen und seine Angst zunutze und lockte den Unglücklichen an jenen grausigen Ort und in den Tod.«

»Wo ist er denn gestorben?« fragte Athelstan.

»In den alten Ruinen nördlich des Tower. Und - bevor du fragst: Sein Mörder hat keine Spuren hinterlassen.«

»Und die Verdächtigen?« fragte Athelstan müde, beugte sich vor und legte dem Coroner die Hand auf den Arm. »Kommt, Sir John, benutzt Euren scharfsinnigen Verstand.«

Cranston zuckte die Achseln.

»Also, es könnte Sir Fulke gewesen sein. Die Schnalle, die auf dem Eis lag, gehört ihm, und er hat Vorteile vom Tod seines Bruders. Sir Ralphs Diener Rastani wäre geschmeidig und kräftig genug, um die Mauer hinaufzuklettem.« Cranston zog eine Grimasse. »Ich habe übrigens ihre Angaben zu dem Abend, an dem Sir Ralph starb, nachgeprüft. Sir Fulke und Rastani waren nicht im Tower, und es gibt Leute, die das bezeugen können.«

»Master Geoffrey könnte der Täter sein«, meinte Athelstan. »Aber in der Nacht, als Sir Ralph starb, lag er in Philippas Bett, und in der Nacht von Sir Gerards Tod war er ebenfalls im Gemach seiner Lady. Gut, er kam, um Sir Ralph zu wecken, wurde aber nach Waffen durchsucht, hatte keinen Schlüssel, und selbst wenn er die Kammer betreten hätte - Günstling oder nicht -, hätte Sir Ralph sich wohl kaum in aller Ruhe die Kehle von ihm durchschneiden lassen.« Athelstan rieb sich das Gesicht. »Die Möglichkeiten sind endlos. Hammond, der Gauner von Kaplan. Colebrooke, der neidische Lieutenant. Die ehrwürdige Mistress Philippa. Nicht zu reden von unserem Hospitaliter, der uns vielleicht nur einen Haufen Lügen erzählt hat.« Der Bruder machte schmale Augen. »Wir müssen alle überprüfen«, sagte er.

»Und Rothand«, bemerkte Cranston. »Der Mann ist vielleicht nicht so verrückt, wie er aussieht.«

Athelstan blickte auf und lächelte. »Wir haben Fortschritte gemacht, Sir John. Wenn man Fitzormonde glauben darf, kennen wir den Grund für die Mordtaten: Burghgeshs Tod auf dem unseligen Schiff im Mittelmeer vor so vielen Jahren. Das Bild auf dem Pergament soll die Mörder an ihre üble Tat erinnern, und der Sesamkuchen ist ein Zeichen für ihr bevorstehendes Ende.«

»Und das« - Cranston brüllte fast und bedeutete dem Wirt, ihm endlich das Essen zu bringen, denn sein Magen knurrte - »bringt uns zum nächsten Geheimnis. Ist Burghgesh wirklich tot? Oder ist er wieder da und verbirgt sich in London, vielleicht sogar im Tower? Oder steckt sein Sohn dahinter? Oder ein Freund?«

Cranston lehnte sich zurück; Joscelyn brachte die dampfenden Schüsseln mit dem Essen. Sir John bediente er eigenhändig; er schnitt mit seiner einen Hand dicke Scheiben von der Fasanenbrust ab und legte sie geschickt auf den Zinnteller, während eine Magd mit einem Krug dampfender Sauce herbeikam, in der der Vogel geschmort war. Sir John grinste dankend, zog seinen eigenen Zinnlöffel aus der Tasche, griff nach seinem Dolch und machte sich über das Essen her, als hätte er seit Tagen nichts mehr bekommen. Athelstan sah staunend zu: Sir Johns unablässiger Hunger faszinierte ihn stets. Eine Hausmagd brachte auch ihm sein Essen, eine Schüssel mit dicker, starkgewürzter Suppe. Athelstan bat um einen Zinnlöffel und aß langsam.

»Die haben das Brot vergessen«, brummte Sir John.

Athelstan rief das Mädchen zurück, und sofort wurden kleine, frische, in Leintücher gewickelte Weißbrote herbeigebracht. Athelstan dachte über das Besprochene nach und wartete, bis Sir John seinen größten Hunger gestillt hatte.

»Eines haben wir übersehen«, sagte er dann.

»Nämlich?« mampfte Cranston mit vollem Mund.

»Nach dem Mord an Horne wissen wir, daß der Täter uns kennt. Weshalb hätte er Euch sonst eine so grausige Jagdtrophäe ins Haus geschickt?«

»Weil der Hund verrückt ist!«

»Nein, nein, Sir John. Es soll eine Warnung sein. Dieser Mörder bildet sich ein, Gottes Werk zu tun. Er schickt uns eine Botschaft: Haltet Euch zurück, bis meine Arbeit getan ist. Mischt Euch nicht ein.« Athelstan ließ den Löffel sinken. »Was für eine schreckliche Sache«, flüsterte er. »Einem Mann die Genitalien abzuhacken und sie dem abgetrennten Kopf in den Mund zu stopfen. Aber Fitzormonde hat so etwas erwähnt.«

»Was denn?«

»Nun, der Kalif von Ägypten habe jeden so bestraft, der gegen seinen Befehl verstieß - Kopf und Genitalien abgehackt und auf dem Stadttor von Alexandria zur Schau gestellt. Es liegt auf der Hand, Sir John«, fuhr er fort, »daß unser Mörder jemand sein muß, der in Outremer war, jemand, der über die Haschischoni Bescheid weiß - bedenkt den flachen Sesamkuchen und die schreckliche Art, den Leichnam eines hingerichteten Verbrechers zu demütigen.«

Cranston ließ seinen Dolch sinken. »Aber wer ist es, Bruder?«

»Ich weiß nicht, Sir John, aber ich glaube, wir sollten noch einmal in den Tower gehen und mit unseren Verdächtigen sprechen.«

»Und dann?«

»Dann gehen wir nach Woodforde.«

Cranston stöhnte.

»Sir John«, beharrte Athelstan, »es ist nicht weit - ein paar Meilen durch Aldgate, und dann die Mile End Road hinunter. Wir müssen herausfinden, ob Burghgesh je zurückgekehrt ist und was aus seinem Sohn geworden ist. Außerdem«, fügte er hinzu, »findet Ihr dabei vielleicht ein bißchen Zeit, um über Lady Maude nachzudenken.«

Cranston stieß seinen Dolch in ein Stück zartes Fleisch, willigte brummend ein und aß weiter, als hänge sein Leben davon ab.

10. Kapitel

Athelstan und Cranston beendeten ihre Mahlzeit und überquerten die London Bridge. Unter ihnen rauschte das Wasser schwarz und träge, und die Eisschollen krachten gegen die Verkleidungen, die die Holzpfeiler der Brücke vor dem Wüten der Themse schützen sollten. Sie kamen durch Billingsgate. Die Verkaufsstände verströmten heftigen Gestank; sie waren wieder frisch gefüllt mit Hering, Kabeljau, Schleie und sogar Hecht, denn auch die Flotte der Fischerboote hatte den Wetterumschwung genutzt.

Im Tower herrschte reges Treiben, als sie ankamen. Wie jeder gute Soldat ließ Colebrooke die Garnison arbeiten, um die durch den Frost ausgelöste Trägheit zu beenden und sich selbst von den Morden abzulenken. Der Lieutenant stand auf dem Tower Green und rief den Arbeitern, die die Steinschleudern, die Skorpione und die großen Rammen überholten, Befehle zu. Bogenschützen standen knöcheltief im Matsch und übten an den Zielscheiben; andere wurden von ihren Feldwebeln gnadenlos gedrillt. Athelstan entsann sich, Gerüchte gehört zu haben: Im Frühjahr würden die Franzosen vielleicht die Kanalhäfen angreifen und sich sogar die Themse heraufkämpfen, um die Stadt zu plündern und niederzubrennen.