Athelstan war verblüfft über die Verwandlung, die Cranstons Worte auslösten. Das Grinsen des Coroners wurde breiter. »Gut«, stellte er fest. »Jetzt haben wir Eure Aufmerksamkeit.« Er warf einen kurzen Blick auf den wütenden Hospitaliter. »Sir Brian, Ihr braucht nicht zu antworten, und wenn Ihr Geduld habt, werdet Ihr sehen, warum wir fragen. Nun?« Der Coroner klatschte in die Hände. »Bartholomew Burghgesh?«
»Bei den Zähnen der Hölle!« schnarrte Sir Fulke und trat in die Mitte des Raumes. »Treibt keinen Schabernack, Sir John. Burghgesh war ein Name, dessen Erwähnung mein Bruder, Sir Ralph, in seiner Gegenwart nicht geduldet hätte!«
»Warum nicht?« fragte Athelstan unschuldsvoll.
»Weil mein Bruder den Mann nicht ausstehen konnte.«
»Aber sie sind doch Waffenbrüder gewesen.«
»Gewesen«, betonte Sir Fulke. »In Outremer hatten sie einen Streit. Später kam Bartholomew ums Leben, als sein Schiff im Mittelmeer von maurischen Piraten gekapert wurde.«
»Warum?« fragte Cranston.
»Warum was?«
»Warum konnte Euer Bruder Burghgesh nicht ausstehen?« Fulke kam näher und senkte den Blick. »Es war eine Ehrensache«, sagte er leise, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schaute nervös Philippa an. »Sir Ralph hat Bartholomew einmal beschuldigt, er widme deiner Mutter, seiner Frau, zuviel Aufmerksamkeit.«
»Und traf diese Beschuldigung zu?« wollte Athelstan wissen. Fulkes Miene wurde milder. »Nein«, stammelte er. »Ich will ehrlich sein - ich mochte Bartholomew. Er war lustig und glaubte von allen immer nur das Beste. Er war sanftmütig und höflich.«
Athelstan spürte plötzlich die stählerne Härte in Sir Fulkes Charakter.
»Ihr hattet ihn wirklich gern, nicht wahr?«
»Ja. Ich war sehr betrübt, als ich von seinem Tod erfuhr.« Er scharrte mit den Füßen und schaute zu Boden. »Ehrlich gesagt«, fuhr er fort, »als ich jünger war, wünschte ich mir immer, Bartholomew wäre mein Bruder, weil ich - Gott verzeihe mir - Ralph nicht leiden konnte.« Er hob den Kopf, und sein Blick war traurig. »Vorjahren dienten er und Bartholomew hier im Tower als Offiziere.« Fulke hustete und räusperte sich. »Mein Bruder war heimtückisch. Er war grausam. Er hat Rothand schlecht behandelt. Er hat sogar den Priester hier geschlagen, als er noch ein junger Novize war.«
Der Kaplan errötete verlegen. »Los, sagt endlich die Wahrheit!« Fulke schaute wütend in die Runde und fletschte die Zähne wie ein Hund. »Sir Ralph war allen verhaßt!«
Kreideweiß vor Wut, trat Mistress Philippa vor. »Mein Vater liegt aufgebahrt und erwartet seine Beerdigung, und du sprichst so schlecht von ihm!«
»Gott verzeihe mir, Philippa, aber ich sage die Wahrheit!« Fulke streckte die Hand aus. »Frag Rastani! Wer hat ihm denn die Zunge herausgerissen, als er ein Junge war?«
Der Schwarze starrte ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das stimmt«, schaltete sich Fitzormonde ein. »Als es zum erstenmal böses Blut zwischen Burghgesh und Whitton gab, ging es um den Mohren.«
Fulke ließ sich auf die Bank fallen. »Ich habe genug gesagt«, seufzte er. »Aber ich habe diese Fragen satt. Philippa, dein Vater war ein Schweinehund, und niemand hier wird mir widersprechen.«
Cranston und Athelstan waren verblüfft über diesen unverhofften Ausbruch von Haß und Feindseligkeit. Du lieber Gott, dachte Athelstan: Jeder von ihnen konnte Sir Ralphs Mörder sein. Burghgesh war sehr beliebt gewesen. Hielt einer der Anwesenden sich für Gottes Henker, der den Tod des guten Mannes zu rächen hatte? Athelstan schaute in die Runde.
»Master Parchmeiner wird heute nicht kommen?« fragte er, die plötzliche Stille nutzend.
»Nein«, antwortete Sir Fulke müde. »Um Himmels willen, Pater, wer würde sich gern hier aufhalten? So viele Erinnerungen, so viel Haß.«
Mistress Philippa saß zusammengesunken auf einer Bank und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Sir Fulke ging zu ihr und tätschelte ihr leicht die Schulter. Cranston sah, daß Rastani spöttisch die Mundwinkel verzog. War er der Mörder? Der Coroner dachte an Athelstans Worte: Adam Hornes Mörder hatte eine Methode benutzt, mit der man in den maurischen Ländern den Leichnam eines Verbrechers und Verräters schändete.
»Wir haben genug gesehen«, flüsterte Athelstan. »Wir sollten jetzt gehen.«
»Eines noch«, sagte Cranston. »Ihr kennt den Kaufmann Adam Horne?«
»Noch so ein Schweinehund«, zischte Sir Fulke. »Ja, ja, Sir John, Horne war ein Freund meines Bruders.«
»Nun, er ist tot«, verkündete Cranston ohne Umschweife. »Gestern nacht in den Ruinen nördlich von hier ermordet.« Fitzormonde fluchte leise. Die anderen blickten erschrocken auf.
»Ich wüßte zu gern, wo jeder einzelne von Euch gewesen ist«, sagte Cranston.
»Bei den Zähnen der Hölle, Sir John!« fauchte Colebrooke. »Jetzt, wo es getaut hat, kann jeder unauffällig kommen und gehen.«
Cranston lächelte matt. Der Lieutenant hatte recht: Es wäre praktisch sinnlos, von allen Rechenschaft über ihre Aktivitäten zu fordern. Horne konnte zu jeder beliebigen Zeit zwischen Abenddämmerung und Morgengrauen ermordet worden sein. »Kommt, Sir John«, sagte Athelstan.
Cranston winkte Colebrooke heran, und sie verabschiedeten sich. Sie sprachen kaum ein Wort, bis sie ihre Pferde abgeholt, den Tower verlassen und die Richtung nach Eastcheap eingeschlagen hatten.
»O Herr, errette uns!« Cranston brach unvermittelt das Schweigen. »Wieviel Haß doch des Menschen Herz erfüllt, wie, Bruder?«
»Aye«, antwortete Athelstan und lenkte Philomel behutsam von der verschneiten Kloake weg, die in der Mitte der Straße entlangführte. »Vielleicht sollten wir alle das bedenken, Sir John. Kleine Eifersüchteleien und Mißverständnisse können aus den Funken eines Zanks ein tosendes Feuer des Hasses entfachen.«
Cranston warf Athelstan einen Blick zu und lächelte über diese stachelige Ermahnung: Was für Fulke und die anderen im Tower galt, galt natürlich auch für seine Beziehung zu Lady Maude. »Wohin jetzt, Bruder?« fragte er.
»Zu Master Parchmeiners Laden gegenüber dem Chancellor’s Inn bei St. Paul.«
»Warum?« fragte Cranston.
»Weil er nicht bei den anderen im Tower war, Sir John, und weil wir jeden befragen müssen.«
Sie ritten die Candlewick Street zur Trinity hinauf, in einem wohlhabenden Stadtteil, den Athelstan nur selten besuchte. Die Häuser waren geräumig und beeindruckend; die unteren Stockwerke waren aus massivem Holz gebaut, die überhängenden Giebel darüber ein Fachwerk aus schwarzen Balken und weißem Putz. Die Dächer waren mit Ziegeln gedeckt, anders als viele der Häuser in Athelstans Pfarrgemeinde, die sich mit Ried oder Stroh begnügen mußten. Viele der Fenster waren aus reinem Glas und mit Holzläden und Eisengittem gesichert. In diesen Häusern spülten Dienstboten regelmäßig die Kloake mit dem Wasser, das sie zum Waschen der Kleider benutzten; deshalb stank es hier nicht so wie in Southwark. Vor etlichen der imposanten Hauseingänge standen bewaffnete Gefolgsleute mit den bunten Wappen ihrer Herren, auf denen Bären, Schwäne, geflügelte Drachen, Löwen und noch seltsamere Tiere dargestellt waren. Untersetzte, wohlgenährte Kaufleute spazierten Arm in Arm mit ihren rundlichen Ehefrauen, die in Seide und Satin gehüllt und mit winzigen Perlen von exquisiter Zartheit geschmückt waren. Zwei Domherren aus der Kathedrale in dicken wollenen, mit Hermelin verbrämten Roben stolzierten vorbei. Eine Gruppe von Rechtsanwälten in roten und violetten, lammwollgefütterten Gewändern schlenderten arrogant vorüber; sie hatten ihre Mäntel zurückgeschlagen und stellten prachtvolle, tiefhängende Gürtel zur Schau.
Schweine mit Glocken um den Hals streiften umher; sie gehörten dem Hospital von St. Anthony und durften nicht geschlachtet werden. Büttel vertrieben mit stahlbeschlagenen Stöcken das freilaufende Geflügel oder machten dem Gekläff wilder, gelber Hunde ein Ende, und Gemeindediener versuchten, ein merkwürdiges, wie eine Elster in schwarzweiße Lumpen gekleidetes Geschöpf zu vertreiben, einen Burschen, der lautstark behauptete, in seinem ramponierten Lederkoffer ein paar der wunderbarsten Reliquien der Christenheit zu haben. »Einen Zahn von Karl dem Großen!« schrie er. »Zwei Beine des Esels, der Maria trug! Den Schädel eines Dieners des Herodes und ein paar von den Steinen, die Christus in Brot verwandelte.«