»Und Ihr habt sie nicht verlassen?«
Geoffrey zog ein Gesicht. »Wie alle anderen habe ich den Abtritt am Korridor benutzt. Als der Alarm losging, bin ich hinausgewankt, um zu sehen, was los war. Aber viel getan habe ich nicht; ich war betrunken und hasse diese Mauertreppen. Also lief ich herum und tat beschäftigt, und dann sah ich Fitzormonde und Colebrooke, die bei Mowbrays Leiche standen.« Der junge Mann schwieg und sah Athelstan scharf an. »Ich weiß, warum Ihr gekommen seid. Es gibt wieder einen Toten im Tower, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Athelstan leise, und dann berichtete er, wie Horne gestorben war.
Geoffrey lehnte sich zurück und pfiff leise. »Vermutlich«, sagte er müde, »wollt Ihr mich deshalb vernehmen.«
»Es wäre hilfreich zu wissen, wo Ihr gestern nacht wart«, bemerkte Cranston.
Parchmeiner zuckte die Achseln. »Ich habe hier gearbeitet und mich dann in einer Taverne in der Nachbarschaft vollaufen lassen. Im Goldenen Streifen. Dort könnt Ihr nachfragen.« Athelstan lächelte. Was würde das nützen? Horne konnte zu jeder beliebigen Nachtstunde ermordet worden sein. Er betrachtete Parchmeiners mädchenhaftes Gesicht. »Seid Ihr eigentlich in London geboren?« erkundigte er sich und versuchte, das Pergament auf Parchmeiners Tisch zu entziffern.
»Nein, Bruder. Meine Familie ist aus Wales, wie man an meiner Haarfarbe sieht. Sie ist nach Bristol gezogen, und mein Vater handelte in einem Laden unter der Kathedrale mit Pergamenten und Velin. Als er starb, zog ich nach London.« Geoffrey nahm das Pergament zur Hand. »Meine Schwester, die inzwischen verheiratet ist, lebt immer noch dort; sie schreibt mir gerade, daß sie zu Weihnachten kommen will. Sie, ihr Gemahl« - seine Miene zeigte gespielte Feierlichkeit - »und ihre große Kinderbrut werden ein wenig Leben in den Tower bringen.« Er sah Sir John an. »Mylord Coroner, habt Ihr sonst noch Fragen?«
Sir John schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, keine.«
Sie standen auf und verabschiedeten sich, und Sir John und der Ordensbruder traten hinaus auf die kalte Straße.
»Was meinst du, Bmder?«
»Ein junger Mann, der es in seinem Geschäft noch weit bringen wird, Sir John. Er steht mit beiden Beinen fest auf der Erde.« Athelstan grinste. »Ja, Sir John, genau wie Ihr habe ich mich gefragt, ob er nicht Burghgeshs Sohn sein könnte. Aber ich bin sicher, er ist es nicht.« Athelstan sah den Coroner eindringlich an. »Wir suchen einen Mörder ohne Bindungen, Sir John. Jemanden, der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist. Jemanden, der von dem großen Verrat vor so vielen Jahren weiß. Die Frage ist: Wer ist es?«
»Tja!« Cranston klatschte in die Hände. »Das werden wir hier nicht herausfinden, Bruder. Aber vielleicht in Woodforde …« Der Coroner wischte sich mit dem Handrücken die Nase und schaute zum Himmel. »Ich will nicht in London bleiben«, sagte er leise. »Lady Maude muß sich von mir erholen. Und du, Bruder?«
»Meine Pfarrgemeinde«, antwortete Athelstan trocken, »wird die fortgesetzte Abwesenheit ihres Pastors noch ein Weilchen überleben, denke ich.«
Sie trennten sich an der Ecke Friday Street und Fish Street und vereinbarten, sich in zwei Stunden in einer Schenke auf der Mile End Road zu treffen.
Sir John verschwand, sein Pferd am Zügel, und Athelstan ritt durch die Trinity und Walbrook Street an der Ropery entlang zur London Bridge. Gottlob fand er die kleine Kirche beinahe verlassen vor; nur Watkin war da, dem er strikte Anweisungen für die Kirche erteilte, und Ranulf, der Rattenfänger, der gekommen war, um ihn an sein Versprechen zu erinnern, St. Erconwald zur Zunftkirche zu machen, wenn eine Zunft der Rattenfänger gegründet werde.
»Ich verspreche dir, Ranulf, ich werde mir die Sache überlegen«, sagte Athelstan und versuchte, nicht zu lächeln beim Gedanken an eine Kirche voller Rattenfänger mit Teermützen, die alle aussahen wie Ranulf. Das gelbe, vertrocknete Gesicht des Burschen verzog sich zu einem Grinsen und entblößte eine Reihe spitzer Zähne. Er hüpfte die Treppe hinunter, glücklich wie ein kleiner Junge.
»Bruder?« sagte Watkin kläglich.
»Was gibt’s?«
»Na ja…« Der Mistsammler drehte sich auf der obersten Stufe der Kirchentreppe um und deutete zum Friedhof hinüber. »Wir haben immer noch keine Wache aufgestellt.«
»Warum sollten wir, Watkin? Die Grabräuber sind fort.«
Der Mistsammler schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Bruder; ich fürchte, es kommt noch schlimmer.«
Athelstan zwang sich zu einem Lächeln. »Unsinn. Hör zu, Watkin, ich komme morgen am späten Abend zurück. Geh zu Pater Luke in St. Olave. Er möchte so freundlich sein, morgen früh hier die Messe zu lesen. Du weißt, wo alles ist? Und sag der Witwe Benedicta, sie soll dir helfen. Machst du das?«
Watkin nickte und stapfte davon, er schimpfte leise über Priester, die nicht zuhörten, wenn man ihnen von dunklen Gestalten erzählte, die auf den Friedhöfen der Stadt grausige Dinge trieben. Athelstan sah ihm nach und seufzte. Was konnte er tun, wenn nichts darauf hindeutete, daß dem Friedhof Gefahr drohte? Er vergewisserte sich, daß die Kirchentür abgeschlossen war, und war dabei in Gedanken bei Cranston. Der Lord Coroner wurde allmählich zu einem genauso großen Problem wie die furchtbaren Todesfälle, die sie zu untersuchen hatten. Was war mit Maude los? Und wieso fragte er sie nicht einfach?
Athelstan lächelte, als er zu seinem Haus hinüberging. Seltsam, dachte er: Cranston, der sich vor nichts fürchtete, was auf zwei Beinen herumlief, hatte vor seiner kleinen Frau anscheinend schreckliche Angst. Er sah nach, ob Fenster und Türen des Pfarrhauses sicher verschlossen waren, warf dem protestierenden Philomel die Satteltaschen über, und müde machten sich Pferd und Reiter auf den Weg. An einem Ale-Haus machte er noch einmal halt, um bei Tab, dem Kesselflicker, Aufträge für Watkin und Benedicta zu hinterlassen: Sie sollten nach der Frühmesse die Kirche abschließen, und falls Benedicta einverstanden war, solle sie Bonaventura mit nach Hause nehmen. Dann ritt der Ordensbruder zurück auf die Hauptstraße, am Priorat von St. Mary Overy vorbei und über die London Bridge. Unterwegs sprach er in der St.-Thomas-Kapelle ein Gebet für die Reise.
Cranston erwartete ihn in der kleinen Taverne hinter Aldgate mit Blick auf den stinkenden Abflußgraben der Stadt. Der Coroner schien guter Dinge zu sein. Athelstan vermutete, dies sei auf den großen, leeren Weinbecher zurückzuführen, der vor ihm auf dem Tisch stand, aber Cranston blieb - zwinkernd und rülpsend - fest bei seinem geheimen Vorsatz, Athelstan mit seinen Sorgen und Nöten nicht weiter zu behelligen. Der Ordensbruder trank mit Sir John ein letztes Glas mit Zimt gewürzten Glühwein. Dann holten sie ihre Pferde aus dem Stall und machten sich auf den Weg über die allmählich dunkler werdende Landstraße nach Mile End. Unterstützt von einem wunderbaren Weinschlauch, der anscheinend nie leer wurde, behielt Cranston seine blendende Laune. Athelstan war müde und wund geritten; er betete und fluchte abwechselnd, während Cranston, furzend und im Sattel schwankend, über dieses und jenes schwatzte. Schließlich zügelte Athelstan sein Herd und faßte den Coroner beim Handgelenk.
»Sir John«, sagte er müde, »diese Sache im Tower … wir kommen einfach nicht voran. Wieviel Zeit haben wir noch?«
»So lange, bis wir sie erledigt haben«, antwortete Cranston mit glänzenden Augen. »In drei Teufels Namen, Bruder - Befehl ist Befehl, und ich gebe einen Rattenfurz auf murrende Mönche, vereiste Straßen und Reisen durch die Kälte. Habe ich dir eigentlich schon von Lady Maudes Weihnachtsvorbereitungen erzählt?«
Athelstan stöhnte, schüttelte den Kopf und trieb Philomel voran, während Cranston ausführlich Lady Maudes geplantes Bankett schilderte: Eberkopf, Schwan- und Hirschbraten, Quittentorte und Apfelsahne sollte es geben. Der Coroner schwatzte wie eine Elster, während das matte Tageslicht vollends verging und die Dämmerung sich wie grauer Staub über die endlos weiten Schneeflächen senkte. Der ferne Wald verschwand in diesiger Dunkelheit, die alles verhüllte; nur hier und da, wenn sie an einem Haus oder Dorf vorbeikamen, leuchteten ein paar Lichtpunkte. Es war totenstill, bitter kalt und vollkommen windstill.