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»Bestimmt werden die Vögel auf den Bäumen erfrieren«, murmelte Athelstan vor sich hin, »und die Kaninchen auf den Hügeln bleiben unter der Erde.«

Cranston, dessen Weinschlauch überraschenderweise jetzt doch leer war, antwortete nur mit einem kurzen Rülpser. Sie kamen an einem Kreuzweg vorbei, wo an einem Galgen ein schwarzer, steifgefrorener Kadaver hing; der Kopf war verrenkt und das Gesicht unkenntlich, nachdem die Krähen sich daran bedient hatten. Cranston deutete den Weg hinunter auf ein Licht, das in einiger Entfernung leuchtete.

»Dort übernachten wir, Bruder. Ein gutes, gemütliches Wirtshaus, Zum Freund des Galgens genannt.« Er lehnte sich herüber und grinste Athelstan an. »Dem Namen zum Trotz wird es dir gefallen.«

Und es gefiel ihm tatsächlich. Es war ein sauberer, gut gefegter Gasthof mit festen Stallungen, einem nach frischen Kräutern duftenden Schankraum und einem lodernden Feuer, in dem die Holzscheite sich türmten. Als Athelstan jedoch das große Bett sah, das er mit Sir John teilen sollte, sträubte er sich.

»Nein, nein, Mylord Coroner«, sagte er, »ich bestehe darauf, daß Ihr allein schlaft.«

»Wieso, Mönch?«

»Weil Ihr mich, wenn Ihr Euch im Schlaf umdreht, zerquetschen würdet.«

Lachend und scherzend ließen sie ihre Taschen in der Kammer und gingen hinunter in die Schankstube, wo die Wirtin ihnen mächtige Fleischpasteten auftischte, unter deren knusprig goldener Kruste eine würzige Sauce den fauligen Geruch des Fleisches überdeckte. Athelstan bat den Wirt taktvoll, ihnen noch einen Strohsack in die Kammer zu legen. Dann setzte er sich zu Tisch und langte fast so herzhaft zu wie Cranston. Selbstverständlich trank der Coroner, als sei das Ende der Welt nahe, und als er genug hatte, sank er gegen die Einfassung des großen Kamins, rülpste und war es zufrieden. Athelstan starrte in die Flammen und lauschte mit halbem Ohr dem inzwischen aufgekommenen Wind, der heulend an den verschlossenen Fensterläden rüttelte.

»Bruder?«

»Ja, Sir John?«

»Die Sache im Tower - könnte das Schwarze Magie sein?«

»Wie meint Ihr das?«

»Na ja, der Kopf, den ich geschickt bekommen habe …« Athelstan streckte die Hand dem Feuer entgegen. »Nein, Sir John. Ich habe schon einmal gesagt, wir haben es nicht mit einem Dämon zu tun, sondern mit etwas Schlimmerem: mit einer Seele in Todsünde. Aber mit wessen Seele?« Er sah Sir John an, der seine leuchtend rote Nase schon wieder tief in den Weinbecher versenkt hatte. »Warum ausgerechnet jetzt? Das verstehe ich nicht. Warum hat der Mörder sich diesen Zeitpunkt gesucht? Und woher weiß er von den schrecklichen Ereignissen um Burghgeshs Tod?«

»Wie meinst du das?« lallte Cranston.

Athelstan reckte sich.

»Wir sollten Ausschau halten nach jemandem ohne jeden Hintergrund, jemandem, der unvermittelt auf der Szene erschienen ist; aber alle die, mit denen wir gesprochen haben, haben ihre eigene kleine Nische.«

Cranston rülpste. »Ich weiß nicht. Aber es könnte trotzdem Schwarze Magie sein, denn ich kann verdammt keinen Weg durch dieses Gestrüpp finden. Ich habe schon zu Lady Maude gesagt…«

Plötzlich verstummte der Coroner, starrte in seinen Becher, und seine Miene wurde ernst.

»Kommt, Sir John«, sagte Athelstan ruhig. »Zeit zum Schlafengehen.«

Überraschenderweise willigte Cranston ein; er trank seinen Becher leer und stellte ihn dröhnend auf den Tisch. Dann stand er schwankend auf und grinste wohlwollend auf seinen Gefährten herunter.

»Aber glaubst du daran, Bruder?«

»Woran, Sir John?«

»An Schwarze Magie? Ich meine, zum Beispiel die Sache auf deinem Friedhof.«

Athelstan grinste. »Um ganz ehrlich zu sein, Sir John, vor dem menschlichen Herzen habe ich mehr Angst als vor irgendeinem bösen Dämon. Und jetzt kommt; es wird Zeit.«

Athelstan war froh, den richtigen Zeitpunkt getroffen zu haben, denn als sie die wacklige Holzstiege erklettert hatten, war Cranston schon halb eingeschlafen und murmelte herzerweichend von Lady Maude und wie sehr er sie vermißte. Athelstan führte ihn durch einen kalten, dunklen Korridor in die Schlafkammer. Behutsam ließ er ihn auf das Bett sinken, zog ihm die Stiefel aus und machte es ihm so bequem wie möglich. Der Coroner wälzte sich auf die Seite, rülpste noch einmal und fing an zu schnarchen. Athelstan grinste und deckte die massige Gestalt zu. Im Schlaf hatte Cranston noch mehr Ähnlichkeit mit dem großen Bären im Tower. Athelstan ging zu dem kleinen Fenster mit der Hornscheibe, kniete nieder, bekreuzigte sich und sprach leise die Worte des Psalms Davids.

»Aus der Tiefe rufe ich zu dir, O Herr, Herr erhöre meine Stimme.«

Als er beim vierten Vers angekommen war, schweiften seine Gedanken bereits ab. Ob Sir John recht hatte? Spukte der große Dämon, der Rote Schlächter, auf seinem Friedhof und im Tower in London? Athelstan schloß die Augen, beendete den Psalm und legte sich auf seinen Strohsack. Eine Zeitlang lag er da und lauschte Cranstons lautem Schnarchen, dann schlief er ein - fast zur gleichen Zeit, als Schatten über den dunklen Friedhof von St. Erconwald huschten und sich über ein frisches Grab beugten.

11. Kapitel

Im Traum stand Athelstan auf einem dunklen Schiff. Bugspriet, Mast und Segel waren mit dunklem Crêpe verhangen. Auf dem Achterdeck über ihm stand ein Skelett, dessen Gesicht eine weiße, höhnische Maske war, am Steuer und grinste böse auf ihn herab. Die See war glatt und klar wie dickes, dunkles Glas. Der sternenlose Himmel hing wie ein blauviolettes Tuch über dem Schiff, das dem Horizont entgegentrieb, wo feurigrote Glut das Tor zur Hölle wies. An einem Mast hing krampfhaft zuckend eine Gestalt. Athelstan erkannte das schwarze, verzerrte Gesicht des Grabenbauers Pike, der dort aufgehängt worden war. Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Sein Bruder Francis stand hinter ihm; sein Gesicht unter dem dichten schwarzen Haar war bläulich weiß. Ein dünnes Rinnsal von rotem Blut sickerte ihm aus dem Mundwinkel, und seine Brust, wo er die tödliche Wunde empfangen hatte, war eine offene, blutig blubbernde Masse.

»Du bist weggelaufen aus deinem Kloster, Bruder?« Seine Stimme klang hohl.

Athelstan streckte die Hand aus. »Es tut mir leid, Francis«, murmelte er und schaute sich um. War Cranston hier? Er war sicher, daß er die Stimme des Coroners gehört hatte.

Athelstan ging zur Ladeluke und spähte hinunter: Dort hockte eine nackte Frau, das Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Aus ihrem Mund quoll eine ekelhafte Kröte, und um ihren Hals ringelte sich eine gelbe Schlange, deren rote Schlitzaugen wie Diamanten funkelten. Eine dicke Ratte hockte neben ihr. Athelstan stieg die Leiter hinunter. Hinter der Frau kniete ein Ritter in voller Rüstung mit strenger, ungerührter Miene; seine eisengepanzerten Hände ruhten auf dem Heft eines mächtigen zweischneidigen Schwertes. Es stank nach Tod, und Athelstan fühlte, daß jemand hinter ihm stand. Er schüttelte sich heftig, als eine Hand seine Schulter packte.

»Athelstan! Athelstan! Bruder, um Gottes willen!«

Der Ordensbruder schlug die Augen auf. Cranston schaute auf ihn herab, das runde Gesicht in sorgenvolle Falten gelegt. »Bruder, was ist los?«

Athelstan starrte ihn an. »Lieber Sir John … ich hatte einen Traum.« Er rieb sich mit einer feuchtkalten Hand über das Gesicht. »Ich hatte einen Traum«, wiederholte er.

»Aber keinen angenehmen!«

»Das stimmt, Sir John. Ein Succubus der Nacht mit der Macht von tausend Skorpionen hat meinen Geist ergriffen.«

Cranston machte ein verständnisloses Gesicht, und Athelstan lächelte.

»Das war nicht ernst gemeint. Ich glaube, mein Alptraum hatte mehr mit dem Essen als mit dem Sterben zu tun. Wir haben gestern abend gut getäfelt.«