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»Gestern ist gestern, und heute ist heute«, antwortete Cranston gewichtig. »Los, Bruder, der Tag bricht an.«

Athelstan stand auf, sprach ein hastiges Gebet und wusch sich mit eiskaltem Wasser aus einem rissigen Zinnkrug. Sie rafften ihre Habseligkeiten zusammen und gingen in den kalten, verlassenen Schankraum. Es brannte kein Feuer, und der Raum wirkte nicht so freundlich und anheimelnd wie am Abend zuvor.

Sie aßen rasch ein paar warme Haferkuchen und tranken heißen Wein dazu. Dann sattelten sie ihre Pferde und ritten hinauf zur Hauptstraße.

Es versprach ein schöner Tag zu werden. Eine blasse Sonne erhob sich über den Horizont und vertrieb die Dunkelheit. Ihre Pferde stapften auf dem gefrorenen Weg dahin, und die beiden Reiter achteten besonders auf Schlaglöcher, die manchmal so tief waren, daß ein unachtsamer Reiter mitsamt seinem Pferd stürzen und sich den Hals brechen konnte.

Das Land lag verlassen und schweigend vor ihnen. Athelstan schauderte bei dem Gedanken an seinen Alptraum und die gespenstische Stille auf dem unheimlichen Schiff. Die Hecken zu beiden Seiten waren noch schneebedeckt und die Felder steinhart gefroren unter Schichten von Eis. Hungrige Krähen kreisten geräuschvoll über einer Gruppe Eichen, die ihre schwarzen Äste in den heller werdenden Himmel reckten.

»Ich wünschte, ich wäre wieder in London«, stöhnte der Coroner. »Ich hasse das verfluchte Land. Die Stille ist mir ein Greuel!«

Athelstan bemerkte etwas Buntes in einem Graben, und er lenkte sein Pferd dorthin, um nachzusehen. Der Leichnam des alten Mannes war von Kopf bis zu den Knien mit einem weiten, fadenscheinigen Gewand bedeckt und steifgefroren. Als Athelstan die blauschwarzen Löcher sah, die hungrige Raben in das magere weiße Fleisch gehackt hatten, schloß er die Augen und flüsterte ein Gebet.

»Gott gebe ihm die ewige Ruhe«, murmelte Cranston. »Bruder, wir können nichts für ihn tun.«

Sie kamen durch ein stilles, schlafendes Dorf; ein paar schwarze Rauchfahnen waren das einzige Lebenszeichen. Eine Stunde später ritten sie auf das Dorf Leighton zu. Am Kreuzweg sahen sie eine Schar Dorfbewohner, die sich um ein geschwärztes Schafott drängten. Gottlob war der eiserne Galgen leer.

Die Leute umstanden einen Toten, während zwei stämmige Arbeiter den steinharten Boden am Fuße des Schafotts aufhackten. Mit Spaten und Hacken hoben sie eine flache Grube aus, und ihr Atem hing in der frostigen Luft. Athelstan sah Cranston an. Der Coroner zuckte die Achseln, schob aber die Hand unter den Mantel, ob der Dolch auch locker in der Scheide steckte.

Die Dorfbewohner schauten auf, als die Reiter näher kamen. Eine alte Frau mit gelbem und runzligem Gesicht, deren ausgemergelte Gestalt in eine verschlissene Kuhhaut gehüllt war, kam ihnen entgegengeschlurft.

»Morgen, Morgen!« krähte sie. »Reisende auf einer solchen Straße?« Mit milchig trüben Augen grinste sie verschlagen zu Athelstan hinauf. »Guten Morgen, Vater. Selten sieht man einen Priester so früh.«

»Mütterchen!« schrie Cranston und lockerte sich den Schal vor dem Mund. »Es ist gut, bei diesem gottverlassenen Wetter überhaupt jemanden zu sehen. Was macht ihr hier?«

»Wir begraben Eadwig.«

»Hier?« fragte Athelstan. »Hier ist weder Kirche noch Friedhof.« Die alte Vettel hob die hagere Hand. »Kommt und seht! Kommt und seht!«

Widerstrebend trieben sie ihre Pferde näher heran. Cranstons Tier wurde nervös, und auch Philomel zeigte ein lebhaftes Interesse für die Gruppe am Schafott. Die Dorfbewohner gaben den Weg frei für den Coroner und seinen Begleiter. Athelstan sah rote, schmutzige Gesichter, fettiges, verfilztes Haar und hier und da haßerfüllte Blicke auf ihre wohlgenährten Pferde und warmen Wollmäntel.

Cranston warf einen Blick auf Eadwigs Leichnam, schloß die Augen und wich zurück. Der Bauer hatte gehangen. Sein Gesichtwar schwarz, die Zunge klemmte, halb abgebissen, immer noch zwischen den gelben Zähnen, und ein Auge war aus seiner Höhle gequollen und hing grotesk auf der verschrammten Wange.

»Gütiger Gott!« hauchte Athelstan. »Was ist passiert?«

»Er hat sich umgebracht!« gackerte die Alte. »Du kennst das Gesetz, Vater?«

»O ja, Mütterchen, ich kenne das Gesetz.« Er warf einen Blick auf den kleinen Pfahl, der am Schafott lehnte. »Sir John, wir sollten weiterreiten.«

Der Coroner brauchte keine zweite Aufforderung. Sie wendeten ihre Pferde, ohne sich um das leise Gekicher hinter ihnen zu kümmern. Athelstan schloß die Augen und betete etwas aus dem nächstbesten Psalm, um das furchtbare Grauen abzuwehren, das zur Welt der Menschen gehörte. Hinter sich hörte er noch die Schläge des Holzhammers, mit dem der Pfahl durch das Herz des Selbstmörders getrieben wurde.

»Gütiger Gott«, murmelte Cranston. »Ihr Priester solltet das schleunigst ändern. Nur der Herr im Himmel weiß, weshalb der arme Hund sich umgebracht hat. Aber muß man einen Selbstmörder wirklich am Kreuzweg bei einem Galgen begraben und ihm vorher mit einem Pfahl das Herz durchbohren?«

»Die Bischöfe haben versucht, dem ein Ende zu machen«, sagte Athelstan. »Aber in gewissen Gegenden und auch auf gewissen Herzen, Sir John, liegen die Lehren Christi so dünn und lose wie ein Spinnennetz.«

Sie ritten durch Leighton und folgten dem Weg, der an den dunklen Massen des Epping Forest vorbei nach Woodforde führte. Als die Glocke zur neunten Stunde schlug, hatten sie das Dorf erreicht. Es war reizlos. Ein paar Dörfler, mit Kapuzenmänteln vor der Kälte geschützt, liefen umher und scheuchten dürre Hühner vor den Pferden weg. Ein paar Jungen zogen abgenutzte Holzeimer aus einem Brunnen herauf, und hier und da kippte eine Hausfrau den Inhalt des Nachttopfes mitten auf die Straße. Sogar das Ale-Haus war noch verriegelt und verrammelt.

»Wie ein Dorf der Toten«, murmelte Athelstan.

»Aye, das kann gut sein, Bruder«, antwortete Cranston durch seinen Schal. »Bei der Kälte kann niemand auf den Feldern arbeiten.«

Ein kleiner Junge, das Gesicht vor Kälte weiß verkniffen, lief plötzlich feierlich neben ihnen her; mit der einen knochigen Hand umklammerte er einen schmutzigen Segeltuchbeutel. Athelstan zügelte Philomel.

»Was gibt es, Junge?«

Der Junge starrte mit runden Augen wortlos auf Philomels Schwanz.

»Komm schon, Kleiner - was willst du?«

»Mutter sagt, ich soll mitgehen. Sagt, ich soll warten, bis das Pferd den Schwanz hebt.«

Cranston gluckste. »Er wartet darauf, daß unsere Pferde scheißen. Das ist guter Dünger, und wenn man es trocknet, brennt es warm und fröhlich.«

Athelstan schlug grinsend seine Kapuze zurück, wühlte in seiner Börse und warf dem Jungen einen Penny zu. »Du kannst alles haben, was unsere Pferde fallen lassen, mein Junge«, erklärte er. »Hier ist ein Penny für deine Mühen. Du kennst doch die Familie Burghgesh. Sie haben hier ein Herrenhaus.«

»Oh, alle weg«, antwortete der Bengel, ohne den Blick von Philomels Schwanz zu wenden. »Das Haus liegt hinter dem Dorf bei Buxfield, aber es ist leer und zugeschlossen. Pater Peter weiß Bescheid.« Er deutete auf die ziegelgedeckte Kirche, deren grauer Schieferturm über die Baumwipfel ragte.

Athelstan trieb Philomel an. »Dann machen wir dort halt.«

Sie ritten durch die Pforte auf den Kirchhof und folgten einem Pfad, der sich zwischen Bäumen und überwucherten Gräbern auf die normannische Kirche zuschlängelte. Daneben stand ein bescheidenes, einstöckiges Haus mit gelbem Strohdach; die Fenster waren einfache Holzläden. Athelstan sah sich um. Der Junge stand immer noch hinter ihm, den Beutel in der einen Hand, die andere zur Faust geballt, um Athelstans Penny zu bewachen, als wäre er der Schlüssel zum Himmelstor.

»Ist Pater Peter da?«

»Er ist drinnen«, sagte der Junge. »Und für noch einen Penny passe ich auf Eure Pferde auf.«

Athelstan nickte, und noch eine Münze flog durch die Luft. »Dieser junge Mann wird es noch weit bringen«, knurrte Cranston, als sie abstiegen und an die Tür klopften. Riegel wurden zurückgezogen, die Tür ging auf, und ein glattrasierter, fröhlicher Pater Peter schaute heraus.