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Athelstan schaute sich auf dem Friedhof um; es war so kalt, so trostlos. Pater Peter fiel ihm ein, und er beneidete den Pfarrer von Woodforde um seine stille Häuslichkeit. »Verdammter Cranston!« murrte Athelstan. »Diese verfluchten Morde! Der verflixte Tower! Die verfluchten Herzen der Menschen und ihr böses Treiben! Ich bin ein Priester!« zischte er bei sich. »Nicht irgendein Gehilfe des Sheriffs!«

»Pfarrer Athelstan?«

Der Ordensbruder drehte sich um und funkelte den jungen Boten an, der in Mantel und Kapuze hinter ihm stand.

»Ja, Mann, was gibt’s?«

»Ich komme aus dem Tower. Sir John Cranston schickt mich. Er erwartet Euch in der Taverne Zum Heiligen Lamm an der Cheapside.«

»Sag dem Coroner«, versetzte Athelstan, »daß ich komme, wenn ich komme, und ich rate ihm, nüchtern zu sein!«

Der junge Mann sah ihn überrascht und gekränkt an. Athelstan zog eine Grimasse und spreizte die Hände.

»Mein Gott, Mann, es tut mir leid. Paß auf, du sagst Sir John, ich komme, sobald ich kann.«

Er trat einen Schritt näher und sah das bleiche, verkniffene Gesicht und die tropfende Nase. »Du frierst ja. Geh hinüber in mein Haus; da steht ein Krug Wein auf dem Tisch. Nimm dir einen Becher voll - du findest einen auf dem Bord über dem Kamin. Trink etwas von dem gewürzten Wein, damit du was Warmes in den Bauch kriegst, bevor du zurückläufst.«

Der Bote lief davon wie ein Windhund.

»Ach, übrigens«, rief Athelstan ihm nach, »ich habe gemeint, was ich gesagt habe: Sir John soll nicht so viel trinken.« Langsam ging Athelstan zurück zu seiner Kirche, stieg die Treppe hinauf und betrat den Vorraum.

»Pater?«

Athelstan schrak zusammen, als Master Luke Bladdersniff, der Oberbüttel des Bezirks, aus dem Schatten hervortrat; sein hageres, gelbliches Gesicht und das dünne Blondhaar verschwanden fast unter einer zerdrückten Bibermütze.

»Guten Morgen, Büttel.«

Athelstan betrachtete den Bezirksdiener; seine eng zusammenstehenden Augen waren dunkel umrändert und glichen tatsächlich Pißlöchem im Schnee, wie Cranston sie treffend beschrieb. Die Nase des Mannes hatte Athelstan schon immer fasziniert. Sie war gebrochen und leicht verbogen und verlieh Bladdersniff ein etwas komisches Aussehen, das schlecht zu der bombastischen Wichtigtuerei paßte, mit der der Bursche aufzutreten pflegte. Athelstan winkte ihn müde in die Kirche.

»Master Bladdersniff, Ihr seid bestimmt gekommen, um zu besprechen, weshalb mein Friedhof geschändet und die Gräber beraubt werden, ohne daß Ihr und der Bezirksrat irgend etwas dagegen unternehmt?«

Bladdersniff schüttelte den Kopf und spähte über die Schulter in die Dunkelheit des Kirchenvorraums.

»Was ist, Mann? Was gibt’s da drüben?«

Der Büttel klappte den Mund auf und zu wie ein gestrandeter Karpfen, und Athelstan schaute aufmerksamer hin. Der Kerl sah aus, als wolle er sich gleich übergeben. Sein bleiches Gesicht war grünlich überhaucht, und die dunklen Augen waren wäßrig, als ob Bladdersniff heftig gewürgt hätte.

»Um Himmels willen, Mann, was ist los?«

Wieder schaute der Büttel nach hinten ins Dunkel.

»Es ist wegen Tosspot«, flüsterte er.

»Was?«

»Tosspot! Oder wenigstens ein Teil von ihm.« Bladdersniff bedeutete dem Priester, ihm zu folgen.

Athelstan nahm sich einen Kienspan und ging hinter dem Büttel her, der in einer dunklen Ecke des Kirchenvorraums vor einem schmutzigen Stück Leinwand stehenblieb. Bladdersniff zog den Stoff beiseite, und Athelstan wandte sich angeekelt ab. Da lag das Bein eines Mannes, ein Teil davon wenigstens, so säuberlich und glatt über dem Knie abgeschnitten wie ein Stück Stoff von einem erfahrenen Schneider. Athelstan starrte den blutigen Stumpf und die fleckige Haut an.

»Gütiger Gott!« hauchte er, und der Gestank der Verwesung von dem etwas aufgedunsenen Fleisch drang ihm in die Nase. »Deckt das zu, Mann! Deckt es zu!«

Athelstan löschte seinen Kienspan, ging zur Kirche hinaus und blieb an der Treppe stehen; er atmete die frische Morgenluft in tiefen Zügen. Hinter sich hörte er Bladdersniff.

»Wie kommt Ihr darauf, daß das Tosspot gehörte?«

»Ihr erinnert Euch bestimmt, Pater, daß Tosspot seiner Kundschaft in der Schenke immer von seiner alten Kriegsverletzung erzählt hat, einer Pfeilwunde im Bein. Dauernd zeigte er seine Narbe herum wie eine Reliquie.«

Athelstan nickte. »Aye. Das tat der alte Tosspot immer, wenn er betrunken war.« Er sah den Büttel an. »Und dieses Bein trägt die gleiche Narbe?«

»Ja, Pater, unter dem Knie.«

»Wo wurde es gefunden?«

»Wollt Ihr es sehen?«

»Ja.«

Bladdersniff führte ihn die Bridge Street hinunter, über die Jerwald hinweg und in die Longfish Alley, die hinunter zur Broken Wharf am Fluß führte. Unterwegs sprach Athelstan kein Wort, und die Leute, die ihn kannten, traten beiseite, als sie den wildentschlossenen Ausdruck in dem sonst so sanften Gesicht des Priesters sahen.

Athelstan bemerkte kaum etwas außer dem schmutzigen Schlamm auf den Straßen, durch die sie kamen. Er ignorierte jeden Gruß und schien die Händler und Höker, die hinter ihren wackligen Ständen nach Kundschaft schrien, gar nicht wahrzunehmen. Selbst die stramm in den Block geschlossenen Gauner am Pranger erregten diesmal nicht sein Mitgefühl, und auch Bladdersniff behandelte er, als sei der Büttel nicht vorhanden. Athelstan fühlte sich von Herzen krank. Wer konnte dem Leichnam des armen Tosspot so etwas antun?

Sie erreichten die Broken Wharf oberhalb des Flußufers; Bladdersniff nahm den Ordensbruder beim Arm und deutete hinunter auf die schmutzigen Schlickbänke, wo Möwen und Krähen sich um den angeschwemmten Müll balgten. Athelstan schaute auf die Themse. Das Wasser war so schmutzig und dunkel wie seine eigene Stimmung. Immer noch trieben große Eisschollen vorbei, krachten kreiselnd aneinander und prallten donnernd gegen die Bogenpfeiler der London Bridge.

»Wo habt Ihr es gefunden?«

»Da unten, Pater«, antwortete Bladdersniff knapp. »Im Schlick, in ein Stück Leintuch gewickelt. Ein Bengel, der nach Treibholz suchte, hat es gefunden und zu einem der Händler gebracht, der Tosspots Narbe wiedererkannte.« Der Büttel hustete nervös. »Ich habe von den Grabräubereien auf Eurem Friedhof gehört.«

»Ach ja? Das freut mich aber«, sagte Athelstan mit falschem Lächeln. »Glaubt Ihr, das Bein wurde angeschwemmt?«

»Ja. Zu jeder anderen Zeit hätte der Fluß es fortgetragen. Aber der schwere Eisgang hat die Strömung verändert, und deshalb ist der Beutel ans Ufer gedrückt worden.«

»Mit anderen Worten, es ist hier hineingeworfen worden?«

»Ja, Pater. Entweder hier oder irgendwo in der Nähe.« Athelstan schaute auf die Schlickbänke und Mauern, die sich zur Linken bis zur London Bridge erstreckten. Das Gelände war zu offen, überlegte er. Kein Verbrecher würde sich auch nur im Traum einfallen lassen, eine so schreckliche Tat an einem Ort zu begehen, wo er gesehen werden konnte. Sein Blick ging nach rechts, zu der langen Reihe großer Häuser, deren Gärten bis zum Fluß reichten. Eine Erinnerung regte sich. »Könnte das sein?« murmelte er, »ich frage mich wirklich …?«

»Was denn, Pater?«

»Nichts, Master Bladdersniff. Geht zurück zu meiner Kirche, nehmt, was von dem armen Tosspot übrig ist, und begrabt alles, wie Ihr es für richtig haltet.«

»Aber, Pater, es ist nicht meine …«

»Tut, was ich sage!« bellte Athelstan. »Tut es oder verantwortet Euch vor dem Coroner der Stadt, Sir John Cranston!«

»Der ist hier nicht zuständig.«

»Nein, aber das kann er leicht ändern«, versetzte Athelstan. »Um Himmels willen, Mann, tut es für mich. Tut es für den armen Tosspot. Bitte.«

Bladdersniff starrte ihn an, nickte dann und marschierte davon. Athelstan kehrte nach St. Erconwald zurück. Er hatte eines der Häuser am Fluß wiedererkannt und zugleich daran gedacht, wie sauber und glatt das Bein abgetrennt worden war. Erinnerungen an seine Zeit als Soldat in den Notlazaretten bei den Truppen des alten Königs in Frankreich waren erwacht. Und Athelstan dachte an den Friedhof. Wo waren die Leprakranken? Wieso hatten sie nichts bemerkt? Athelstan dachte an die Aussätzigen, die er in der Nähe von St. Paul gesehen hatte, als er mit Cranston bei Geoffrey Parchmeiner gewesen war. Ihre Bettelschalen! Athelstan blieb mitten auf der Lad Alley stehen. »O mein Gott!« wisperte er. »Oh, um der himmlischen Barmherzigkeit willen!« Der weiße Kalkstaub, den er nach der Messe an seinen Fingern bemerkt hatte, nachdem er die heilige Hostie durch die Lepraspalte nach draußen geschoben hatte … Dem Bruder wurde plötzlich schwindlig, und er lehnte sich an eine urinfleckige Mauer. Andere Erinnerungen kamen ihm. »Natürlich!« flüsterte er. »Deshalb wurde der Friedhof eine Zeitlang in Ruhe gelassen. Der Frost! Erst als der Fluß wieder auftaute, konnten sie das, was sie gestohlen hatten, verschwinden lassen!« Athelstans Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Diese Schweine«, zischte er. »Diese verkommenen Schweine!«