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Er stapfte die Lad Alley hinunter zu einer der belebten Hauptstraßen, die parallel zum Fluß verliefen. Ein kleiner Junge, der einem Ball nachlief, rutschte in dem eisigen Matsch aus und prallte gegen ihn. Athelstan packte ihn so fest bei der Schulter, daß der Junge schmerzlich das Gesicht verzog.

»Pater, Pater, das wollte ich nicht! Ehrlich!«

Athelstan sah das bleiche Gesicht des Kleinen. »Es tut mir leid«, antwortete er sanft. »Ich wollte dir nicht weh tun. Hier, mein Junge - für einen Penny bringst du mich zum Haus des Doktor Vincentius. Du kennst den Arzt?«

Der Junge schüttelte den Kopf, lief aber zu einem Ladenbesitzer, der ihm den Weg erklärte. Dann führte er Athelstan durch eine Gasse auf eine stille Straße mit großen Fachwerkhäusern, an denen allerdings inzwischen die Farbe abblätterte; ihre schmutzigen Fassaden erinnerten an bessere Zeiten und vergangenen Wohlstand. Der Junge deutete auf das dritte Haus; die Fensterläden waren verschlossen, aber die große Haustür war frisch gestrichen und mit glänzenden Stahlbändern verstärkt. Athelstan gab dem Jungen den Penny und klopfte an die Tür, bis er von drinnen schnelle Schritte hörte und der Riegel zurückgezogen wurde. Ein junger Mann mit glatten, strähnigen Haaren öffnete; er trug eine blaue cote-hardie mit einem Besatz aus Eichhörnchenfell. Als er den Priester sah, riß er erschrocken die Augen auf.

»Bruder Athelstan!«

»Woher kennst du meinen Namen, du Mistkerl?« schrie der Ordensbruder und stieß ihn gegen die Wand. »Wo ist Doktor Vincentius?«

»In seiner Kammer.«

Athelstan wartete nicht, bis der Bursche ihn hinführte, sondern lief den weißgekalkten Steinkorridor hinunter und riß die Tür am Ende auf. Vincentius saß hinter einem großen Eichenholzschreibtisch in einem warmen, dunklen, holzgetäfelten Zimmer. Athelstan sah Regale voller Pergamentrollen und eine Tierkreiskarte an der Wand; es duftete nach Kräutern und Gewürzen, und ein kleines Holzfeuer knisterte munter im Kamin. Der Doktor erhob sich. Seine dunklen Augen blickten wachsam, aber ein Lächeln überzog das braune Gesicht.

»Bruder Athelstan! Was gibt es? Was wünscht Ihr …?«

»Zuerst dies!« Athelstan gab dem Doktor einen heftigen Stoß; Vincentius flog rückwärts gegen die Wand, stieß einen kleinen Tisch um, und ein gelber Schädel fiel krachend auf den von Karten übersäten Boden. Der Doktor rappelte sich auf und betupfte eine Wunde am Mundwinkel. Seine dunklen Augen machten sich über den Priester lustig.

»Ihr wirkt erzürnt, Pater?«

Athelstan hörte den jungen Mann hinter sich.

»Es ist schon gut, Gidaut«, murmelte Vincentius. »Aber wir sollten wohl wieder einmal packen.«

Athelstan funkelte den Arzt an, während sich hinter ihm leise die Tür schloß.

»Ihr seid ein Hund, Doktor! Ein Ketzer! Ein Grabschänder! Ich habe gerade gesehen, was vom Leichnam des armen Tosspot übrig ist. Wenn der Bezirksaufseher einen Funken Verstand hätte, wäre er mit der Stadtgarde schon hier. Nur ein erfahrener Arzt könnte ein Bein so sauber abtrennen.« Er trat näher an das Schreibpult heran. »Und lügt jetzt nicht! Ihr und Eure Kreatur da draußen …« Athelstan deutete auf die Tür. »Ein gerissenes Paar. Gekleidet wie Aussätzige, mit Gesichtsmasken aus kalkbestäubter Tierhaut - so habt Ihr bei Tag auf meinem Friedhof gehaust und gesehen, was da vor sich ging. Und nachts kamt Ihr dann natürlich zurück und habt Euch geholt, was Ihr wolltet.« Athelstan atmete schwer. »Gott verzeihe mir«, sagte er leise, »ich bin nicht besser als andere Menschen. Wißt Ihr, daß einer, der für aussätzig erklärt wird, an seiner eigenen Totenmesse teilnimmt? Wir betrachten ihn dann schon als tot, und ich habe es genauso gemacht. Die Aussätzigen in meinem Kirchhof waren Schatten für mich, wandelnde Lumpenbündel. Nur eines fehlte: Ich habe sie nie mit einer Bettelschale gesehen, und das ist mir erst heute morgen klargeworden.« Er funkelte den Arzt an. »Ihr hättet wirklich besser aufpassen sollen, Vincentius. Ihr habt die Leichen gestohlen, und wenn Ihr fertig wart, habt Ihr, was von ihnen übrig war, in die Themse geworfen. Aber der Fluß ist träge. Heute morgen sind die grausigen Überreste Eures makabren Treibens wieder ans Ufer getrieben worden.«

Der Arzt stand immer noch mit dem Rücken zur Wand und beobachtete den Priester wachsam. »Ihr seid höchst scharfsichtig, Bruder. Das hat Benedicta mir schon erzählt.«

Athelstan zuckte zusammen, als er den Blick des Arztes sah. »Aye«, sagte er und ließ sich auf einen Schemel fallen. »Aber ich hätte noch schärfer hinschauen müssen. Ich habe Kreide an meinen Fingern gefunden, nachdem ich die Hostie durch den Lepraspalt gereicht hatte.« Zornig starrte er den Arzt an. »Das ist ein Sakrileg, wißt Ihr das? Die Heilige Eucharistie zur Tarnung für Euer gotteslästerliches Tun zu benutzten. Ja«, seufzte er, »ich hätte aufmerksamer sein müssen. Nie habe ich Euch mit einer Bettelschale gesehen, und ich kann mich auch nicht erinnern, Euch je auf den Straßen rings um die Kirche begegnet zu sein.« Er stand auf. »Ihr habt gegen das Gesetz Gottes und das des Königs verstoßen. Ich gehe, aber ich komme mit der Stadtgarde zurück. Heute abend seid Ihr in Newgate und bereitet Euch auf Euren Prozeß vor dem Oberhofgericht in Westminster vor.«

»Benedicta hat mir außerdem erzählt, Ihr wäret ein toleranter Priester. Wollt Ihr mich überhaupt nicht fragen, warum, Pater?« erwiderte Vincentius leise. Er wirkte plötzlich erschrocken und voller Angst. »Ich habe Unrecht getan«, sagte er leise und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Aber wem habe ich denn geschadet? Nein, nein.« Er brachte Athelstan mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Hört mir zu. Ich habe in Bologna Medizin studiert, bei den Arabern in Spanien und Nordafrika und an der großen Schule der Medizin in Salerno. Aber wir Ärzte wissen gar nichts, Pater, außer wie man Blutegel ansetzt und einen Menschen ausbluten läßt.« Vincentius verschränkte die Finger und stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Über den menschlichen Körper können wir nur dann etwas lernen, wenn wir ihn öffnen.

Jedes einzelne Teil sezieren, die Position des Herzens studieren, den Kreislauf des Blutes, die Zusammensetzung der Magenwände. Aber das verbietet die Kirche.« Er hob eine beringte Hand. »Ich schwöre, ich wollte nicht ungehorsam sein, aber meine Sehnsucht nach medizinischem Wissen, Pater, ist genauso groß wie die Eure nach der Errettung der Seelen. Und wohin könnte ich gehen? Zu den Richtstätten oder auf die Schlachtfelder, wo die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind? Da kam ich nach Southwark, denn es liegt außerhalb der städtischen Gerichtsbarkeit. Ja, ja.« Er sah den Ärger in Athelstans Blick. »In eine arme Gemeinde, wo niemand sich darum kümmerte - so wenig wie um die ausgehungerten Kinder auf den Straßen rings um die Kirche.« Vincentius spielte mit einem kleinen Messer. »Ich fing an, einen Leprakranken zu spielen, um auf dem Friedhof spionieren zu können. Aber ich habe nur Leichen genommen, auf die niemand einen Anspruch erhob.«