Выбрать главу

»Ich habe Anspruch auf sie erhoben!« schrie Athelstan. »Gott hat Anspruch auf sie erhoben. Die Kirche!«

»Ja, ich habe die Leichen gestohlen«, fuhr Vincentius fort, »und ich habe sie seziert. Gidaut und ich haben sie nachts in den Fluß geworfen, aber als der große Frost kam, mußten wir aufhören.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Unrecht getan, aber wollt Ihr mich deshalb hetzen? Ich habe hier gute Arbeit geleistet, Priester. Geht hinaus auf die Straßen von Southwark und sprecht mit der Mutter, der ich eine Zyste lanciert habe. Fragt den kleinen Jungen, der wieder klar sehen kann. Den Arbeiter, dem ich das gebrochene Bein gut gerichtet habe. Und wenn ich hänge, Bruder, was dann? Wen wird das interessieren? Die Armen werden weiter sterben, und die Ärzte in der Cheapside, die ihren Patienten Geld und Gesundheit abnehmen, werden in die Hände klatschen, wenn sie mich am Strick tanzen sehen.«

Athelstan ließ müde den Kopf hängen.

»Ich will Euren Tod nicht«, sagte er. »Ich will, daß die Toten auf meinem Friedhof so liegenbleiben, wie Gott es von ihnen erwartet. Ich will, daß Ihr verschwindet, Doktor.« Er stand auf und klopfte sich den Staub von seiner Kutte. »Es tut mir leid, daß ich Euch geschlagen habe.« Er starrte Vincentius an. »Aber Ihr müßt von hier verschwinden. Ich weiß nicht, wohin, und eigentlich ist es mir auch egal, aber ich will, daß Ihr binnen einer Woche die Stadt verlaßt.« Athelstan fühlte sich plötzlich erschöpft und matt, und er merkte, daß er seit langem nicht mehr gegessen hatte. »Es tut mir leid, daß ich Euch geschlagen habe«, wiederholte er, »aber ich war zornig.« Plötzlich fiel ihm ein, daß Cranston auf ihn wartete, und er sah den Doktor an. »Ach ja«, sagte er, »einen Gefallen schuldet Ihr mir noch.«

Vincentius lehnte sich zurück. »Welchen, Pater?«

»Genaugenommen sind es zwei. Erstens, Ihr hattet hier eine Besucherin - Lady Maude Cranston. Warum ist sie gekommen?«

Vincentius grinste. »Lady Maude ist zwar schon im dreißigsten Jahr, aber sie ist enceinte.«

Athelstan starrte ihn ungläubig an. »Sie ist schwanger?«

»Ja, Priester. Etwa im zweiten Monat. Sie und das Kind sind gesund, aber sie hat Angst, daß Sir John ihr nicht glauben könnte. Sie will ihn nicht enttäuschen. Sie haben wohl vor einigen Jahren schon ein Kind verloren.«

Athelstan nickte, und der Arzt genoß die Verblüffung des Priesters.

»Sie hat mir von Sir John erzählt. Ich habe ihr geraten, bei den Freuden des Fleisches äußerst vorsichtig zu sein. Ihr Gatte ist anscheinend ein Berg von einem Mann?«

»Aye.« Athelstan war immer noch wie vom Donner gerührt. »Das ist Sir John allerdings.«

»Und wie lautet der zweite Gefallen, Pater?«

»Ihr habt in Outremer gedient?«

»Ja. Eine Zeitlang habe ich in Krankenhäusern in Tyrus und Sidon praktiziert.«

»Wenn Ihr dort jemandem begegnet seid, wie habt Ihr ihn gegrüßt?«

Jetzt machte der Arzt ein überraschtes Gesicht. »Schalom«, antwortete er. »Das ist der übliche semitische Ausdruck für Friede sei mit Euch.«

Athelstan hob die Hand. »Doktor Vincentius, ich sage Euch Lebewohl. Wir werden uns sicher nicht Wiedersehen.«

»Priester?«

»Ja, Arzt?«

»Freut es Euch, daß ich fortgehe, weil ich Unrecht getan habe oder freut es Euch, daß ich die Witwe Benedicta nicht wiedersehe? Ihr liebt sie, nicht wahr? Ihr mit Euren heftigen Angriffen gegen andere!«

»Nein, ich liebe sie nicht!« fauchte Athelstan. Aber während er die Tür hinter sich schloß, wußte er, daß er, wie der heilige Petrus, die Wahrheit leugnete.

*

Sir John Cranston, Coroner der Stadt, hockte mit trübem Blick in der Schenke Zum Heiligen Lamm und starrte voller Selbstmitleid auf die Cheapside hinaus. Er hatte gut und gern eine Viertelgallone Ale getrunken. Athelstan war nicht gekommen; also würde er nach Hause gehen. Er würde sich seine Frau vornehmen, wie sich das für einen Mann gehörte, mit jähen Vorwürfen und scharfen Fragen; aber er wünschte, der Bruder wäre gekommen. Er hätte in so vielen Dingen gern seinen Rat gehört.

Cranston lehnte sich an die Wand und blinzelte durch den Schankraum. Die neueste Geschichte aus dem Tower war furchtbar. Er war hingegangen, um sich Fitzormondes übel zerfleischten Leichnam anzuschauen: Das halbe Gesicht war weggerissen und der Körper bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Cranston rieb sich die Wange. Zunächst hatte Colebrooke das Ganze für einen Unglücksfall gehalten.

»Es war kurz nach Einbruch der Dämmerung«, hatte der Lieutenant ihm berichtet. »Fitzormonde war, wie es seine Gewohnheit war, zu dem Bären gegangen. Gerade war noch alles friedlich, und im nächsten Augenblick schien Satan persönlich aus der Hölle hervorzubrechen. Der Bär riß sich los und zerfleischte den unglücklichen Hospitaliter. Ich befahl die Bogenschützen her, und der Bär wurde getötet.» Colebrooke zuckte die Achseln. »Sir John, wir hatten keine Wahl.«

»War es ein Unfall?« fragte Cranston. »Daß der Bär sich losriß, meine ich?«

»Erst dachten wir es, aber als wir das Tier untersuchten, fanden wir das hier in seinem Hinterteil.« Der Lieutenant gab Cranston einen kleinen Armbrustbolzen von der Art, wie eine Dame ihn für die Jagd benutzen würde.

»Wer war zur fraglichen Zeit im Tower?«

»Alle«, antwortete Colebrooke. »Ich, Mistress Philippa, Rastani, Sir Fulke, Hammond, der Kaplan - alle, außer Master Geoffrey, der in seinen Laden in der Stadt zurückgegangen war.« Cranston hatte dem Lieutenant gedankt und war in das schäbige, feuchte Leichenhaus neben St. Peter ad Vincula gegangen, wo Fitzormondes zerfleischte Überreste aufgebahrt lagen, bis man sie in ein leinenes Leichentuch nähte. Der Leichnam hatte einen scheußlichen Anblick geboten, er war kaum mehr als ein zerfetzter, blutiger Fleischklumpen gewesen. Cranston war so schnell wie möglich gegangen, hatte alle, die er finden konnte, vernommen, und war zu dem Schluß gekommen, daß der Armbrustbolzen von einem versteckten Schützen abgeschossen worden sein müsse: Davon zur Weißglut gereizt, hatte der Bär seine Kette zerrissen und Fitzormonde angefallen.

Cranston schaute sich noch einmal in der Schenke um und schloß dann seufzend die Augen. Gab es wirklich keine Lösung für dieses Problem? Und wo, zum Teufel, blieb Athelstan? »Mylord Coroner?«

Cranston öffnete die Augen. »Wo hast du gesteckt, Mönch? Und weshalb grinst du so?«

Athelstan lächelte und rief dem Wirt zu: »Zwei Becher von deinem besten Bordeaux. Deinem allerfeinsten.« Er setzte sich hin und strahlte Sir John an. »Mylord Coroner, ich habe Neuigkeiten für Euch.«

13. Kapitel

Sir John Cranston saß auf dem hochlehnigen Stuhl in seiner geräumigen Küche und schaute liebevoll Lady Maude an, die am Tisch stand und Gläser mit kandierten Früchten füllte. Er hatte Athelstans Geschichte kaum glauben können, wenigstens nicht sofort. Erst nach drei weiteren Bechern Bordeaux hatte es ihm gedämmert, und Athelstan hatte ein paarmal wiederholen müssen, was er von Doktor Vincentius erfahren hatte. Endlich, dachte Cranston, ergibt das alles einen Sinn …

Er warf einen verstohlenen Blick auf die Taille seines Weibes und sah, daß die voluminösen Röcke jede Rundung verbergen würden; selbst Lady Maudes Nachthemden waren wattiert, und der Gedanke an ein weiteres Kind war ihm einfach nie gekommen. Nachdem Matthew vor so langer Zeit mit drei Jahren an der Pest gestorben war, hatte Cranston alle Hoffnung auf einen Erben aufgegeben. Er trommelte mit den Fingern auf der Armlehne. Lady Maude sah seinen Blick und schnupperte an einem Glas, um ihre Verwunderung über Sir Johns plötzlichen Stimmungsumschwung zu verbergen. Sollte sie es ihm jetzt erzählen? überlegte sie. Oder sollte sie, wie geplant, bis Weihnachten warten?