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Lady Maude war wie vom Donner gerührt gewesen, als ihre Monatsregel ausgeblieben war; eine Freundin hatte ihr Doktor Vincentius empfohlen. Der Arzt hatte ihre Hoffnungen bestätigt und ihr geraten, was sie essen und trinken und daß sie behutsam mit sich umgehen sollte. Sir Johns amouröse Annäherungen mußte sie zurückweisen, konnte ihm aber nicht sagen, warum. Erst mußte sie sich ganz sicher sein. Lady Maude biß sich auf die Lippe. Es gab noch einen zweiten Grund: Wenn Sir John erst einmal die Wahrheit wüßte, würde sie keinen Frieden mehr finden. Er würde sie umkreisen wie ein großer, zottiger Wachhund, jede ihrer Bewegungen beobachten und endlose Vorträge halten, wie man »vorsichtig und gesund« lebte. Lady Maude senkte den Kopf. Laß das Kind gesund sein, betete sie. Nie würde sie vergessen, wie Matthew gestorben war. Sir John, sonst mutig wie ein Löwe, hatte dagesessen wie ein kleiner Junge, ohne ein Wort, ohne ein Seufzen - stumm waren ihm endlose Tränen übers Gesicht gelaufen.

Sir Johns Gedanken gingen einen ähnlichen Weg: Er hatte Athelstan feierlich versprochen, die Sache nicht zur Sprache zu bringen, bevor seine Frau es täte. Außerdem hatte er versprochen, Vincentius unbehelligt aus London verschwinden zu lassen. Aber das - Cranstons Augen wurden schmal - würde er sich noch einmal überlegen müssen. Vielleicht sollte man im neuen Jahr Briefe an alle Sheriffs von England schicken und Doktor Vincentius und sein gottloses Treiben auf den Friedhöfen anderer Leute schildern? Der Coroner schaute hinüber zu Athelstan, der sich munter mit Leif, dem Bettler, unterhielt.

»Bruder, bleibst du zum Essen?«

»Nein, Sir John, ich muß gehen. Vielleicht ein andermal?«

»Und die Sache im Tower?«

Athelstan erhob sich. »Ich weiß nicht, Sir John. Vielleicht ist es das beste, wenn Ihr eßt und über das nachdenkt, was wir bisher herausgefunden haben. Morgen sprechen wir darüber, hm?« Voller Bewunderung schaute er auf die Einmachgläser, die Lady Maude da füllte. »Ihr erwartet Gäste zu Weihnachten?«

»Eigentlich ja, Pater«, antwortete sie. »Meine Verwandten aus Tiverton in Devon.« Lady Maude warf einen amüsiert ärgerlichen Blick auf Cranstons Grimasse. »Sie sollten kommen, aber die Straßen sind unpassierbar; nicht einmal Boten kommen durch. Ich habe mit einer der Ratsherrengattinnen gesprochen; das Geschäft ihres Mannes hat arg gelitten. Alle seine Reisenden, die in den Südwesten wollten, mußten umkehren.« Athelstan lächelte, und Lady Maude wandte sich wieder ihren Einmachgläsern zu und hatte Mühe, ihre Aufregung zu verbergen, als Athelstan dem Coroner erzählte, daß eines seiner Gemeindemitglieder, ein gewisser Doktor Vincentius, Southwark für immer verlasse. Lady Maude verbarg ihr Gesicht. Sie bedauerte, daß der Arzt fortging. Er war ein überaus tüchtiger Mann. Seufzend starrte sie auf den Tisch. Nun würde sie sich einen anderen guten Arzt suchen müssen; einen, der besser war als die üblichen Blutsauger von Cheapside.

Athelstan zwinkerte Cranston zu, verabschiedete sich und trat hinaus auf die dunkle Straße. Er holte Philomel aus dem Stell des Heiligen Lammes und ritt durch die Dunkelheit heimwärts. Beim Gedanken an Sir Johns Reaktion auf seine Neuigkeiten mußte er leise lachen. Hoffentlich hatte Lady Maude zugehört, als er von Vincentius’ Abreise gesprochen hatte. Vielleicht, überlegte der Ordensbruder, war es so am besten für alle. Plötzlich geriet Philomel auf einer vereisten Stelle ins Rutschen. Athelstan stöhnte auf, stieg ab und führte den alten Gaul vorsichtig am Zügel über die dunkle Straße. Die Häuser ringsumher wirkten düster. Vor jedem der großen Herrenhäuser in der Cheapside brannte eine Öllampe, aber als Athelstan bei St. Peter Comhill um die Ecke bog und zur Bridge Street hinunterging, wurden die Straßen dunkler. Vorsichtig mußte er sich seinen Weg bahnen, zwischen Müll, Nachtkot und Essensabfällen hindurch, wo die Ratten knabbernd umherhuschten. Hinter ihm wurde eine Tür zugeschlagen, und ein Nachtvogel, der unter der Dachkante eines Hauses nistete, flatterte in einer Wolke schwarzer Federn auf, daß Athelstan zusammenfuhr. Bettler wimmerten um Almosen. Eine Hure stand an der Ecke; die orangegelbe Perücke, die struppig über ihrem rötelgeschminkten Gesicht thronte, sah im Licht der Kerze in ihrer Hand um so gespenstischer aus. Sie lachte, als Athelstan vorüberzog, und machte eine obszöne Gebärde. Er schlug ein Kreuz in ihre Richtung. Ein Schläger, der an der Tür einer Ale-Schenke lehnte, sah die einsame Gestalt herankommen und tastete nach dem Holzgriff seines Messers. Aber als er Athelstans Tonsur und das Kruzifix an seinem Hals sah, überlegte er es sich anders.

Athelstan zog weiter; erleichtert sah er im Fackelschein die Soldaten, die an der London Bridge auf Posten standen. Die Tore waren geschlossen, aber die städtischen Bogenschützen erkannten den »Kaplan des Coroners«, wie sie ihn nannten, und ließen ihn passieren.

Der Bruder überquerte die Brücke; Philomels Hufe dröhnten hohl auf den Bohlen. Es war gespenstisch. Sonst herrschte auf der Brücke immer großer Betrieb, aber jetzt lag sie still da und umhüllt von dichtem Flußnebel. Athelstan hatte das unheimliche Gefühl, über einen Abgrund zwischen Himmel und Hölle zu wandeln. Die Möwen, die in den Holzbögen nisteten, flogen auf und protestierten kreischend gegen die unerwartete Störung. Athelstan dachte an die Raben im Tower. Schon wieder ein Toter, dachte er - zwei, wenn man den Bären mitzählte. Athelstan hatte Mitleid mit dem Tier.

»Vielleicht war es am besten so. Noch nie habe ich ein so unglückliches Tier gesehen.« Er dachte an die Lehren einiger Franziskanerbrüder, die wie ihr Ordensgründer überzeugt waren, daß alle Tiere Gottes Geschöpfe seien und deshalb niemals schlecht behandelt oder gefangengehalten werden dürften.

Athelstan kam an der stillen, dunklen Kapelle von St. Thomas von Canterbury vorbei, die in der Mitte der Brücke stand. Die Wachposten am Ufer von Southwark riefen ihm zu; einige hielten ihn sogar für einen Geist. Athelstan rief seinen Namen; man ließ ihn durch und neckte ihn wegen seines unverhofften Erscheinens.

Der Ordensbruder führte Philomel durch die dunklen Gassen von Southwark. Hier fühlte er sich sicherer. Man kannte ihn, und niemand würde wagen, ihn zu überfallen. Er kam an einer Schenke vorbei, wo ein Junge, der sich ein paar Brotkrusten verdienen wollte, im Eingang stand und mit wunderschöner Stimme ein Weihnachtslied sang. Athelstan lauschte den Worten, die Wärme und Fröhlichkeit verhießen. Er tätschelte Philomels Hals. »Wo werden wir das Weihnachtsfest verbringen, he, alter Freund?« fragte er und wanderte weiter. »Vielleicht lädt Lady Cranston mich ein, jetzt, wo ihre Verwandten aus dem West Country nicht kommen.«

Unvermittelt blieb er stehen. »Lady Maudes Verwandte!« murmelte er auf der stillen, ruhigen Straße, und ein Schauder lief ihm über den Rücken. »Seltsam«, fuhr er fort. »Eine solche Kleinigkeit, bloß ein Schaum auf den Ereignissen des Tages…« Er rieb sich das Gesicht. Lady Maudes Worte hatten die Erinnerung an etwas anderes geweckt.

Fast zerrte er nun Philomel nach St. Erconwald zurück und hatte es so eilig, daß das Pferd ihn erbost anwieherte. Athelstan brachte das alte Streitroß in seinen Stall, schaute nach der Kirche und erinnerte sich schuldbewußt an den Zorn, den er heute an den Tag gelegt hatte. Bonaventura war anscheinend auf Freiersfüßen unterwegs. Athelstan ging in sein Haus, zündete ein Feuer an und aß hastig ein Stück kaltes Fleisch. Nach wenigen Bissen warf er den Rest ins Feuer; das Schweinefleisch war faulig. Er goß sich einen Becher verdünnten Wein ein, räumte den Tisch ab und machte sich daran, alles aufzulisten, was er über die Morde im Tower wußte.

Der Gedanke, der vorhin seine Erinnerung in Gang gesetzt hatte, war möglicherweise der Schlüssel zur Lösung des ganzen Problems. Lächelnd dachte er an Pater Anselm und dessen oft wiederholtes Axiom in seinen Vorlesungen über die Logik. »Wo es ein Problem gibt, muß es auch eine Lösung geben. Man muß nur den Weg finden. Manchmal genügt das kleinste Lichtfünkchen.« Dann hatte Anselm ihn mit seinen schwarzen Äuglein angesehen. »Denke immer daran, mein junger Athelstan. Das gilt für das Reich der Metaphysik ebenso wie für die Ereignisse eines jeden Tages.«