Athelstan schloß die Augen. »Ich denke immer noch daran, Vater«, murmelte er. »Der Herr lasse dich ruhen in Frieden.« Er rückte sein Schreibtablett zurecht, ordnete seine Gedanken und tauchte die graue Gänsefeder in die Tinte. Fluchend stellte er fest, daß die Tinte zu kalt war; er hielt den Topf über die Kerze, um sie zu wärmen, und las noch einmal schnell durch, was er sich im Tower notiert hatte. Als die Tinte warm genug war, schrieb er sorgfältig auf, zu welchen Schlußfolgerungen er gekommen war.
Primo: Obwohl gut geschützt, war Sir Ralph Whitton im Turm der Nordbastion ermordet worden. Sir Ralph hatte hinter einer verschlossenen Tür geschlafen, für die er und die Wachen draußen einen Schlüssel gehabt hatten. Die Tür zu dem Gang, der zu der Schlafkammer führte, war ebenfalls verschlossen, und auch diese Schlüssel hatten nur er und seine vertrauten Leibwächter. Aber all diese Vorsichtsmaßnahmen hatten nichts genützt. Sein Mörder war anscheinend über den gefrorenen Festungsgraben gekommen, die Trittkerben in der Turmwand hinaufgeklettert, hatte den Fensterladen entriegelt und Sir Ralph getötet.
Secundo: Der Mörder mußte den Tower gut kennen, um von den Trittkerben in der Mauer zu wissen. Warum hatte das Geräusch der Fensterläden, die geöffnet wurden - vom Eindringen des Mörders in die Schlafkammer ganz zu schweigen -, Sir Ralph nicht geweckt? Eine Stiefelschnalle von Sir Fulke hatte auf dem Eis gelegen. War das ein Hinweis auf den möglichen Mörder?
Tertio: Der junge Parchmeiner hatte als erster versucht, Sir Ralph zu wecken, aber geöffnet hatte die Kammer der Lieutenant, Master Colebrooke. Spielte Sir Ralphs Stellvertreter eine Rolle bei diesem Mord?
Quarto: Mowbray war durch einen Sturz von der Mauer ums Leben gekommen, aber wie war er gefallen? Wer hatte die Sturmglocke geläutet? Wer war nicht in Mistress Philippas Gemach gewesen? Nur zwei: Fitzormonde und Colebrooke. Wieder schüttelte Athelstan den Kopf.
Quinto: Der Tod des Ratsherrn Horne. Athelstan zog eine Grimasse. Überhaupt keine Hinweise.
Sexto: Fitzormondes Tod. Er und Cranston hatten wohl gesehen, daß man die Kette des Bären besser hätte befestigen können, und Fitzormonde hatte die Gewohnheit gehabt, den Bären anzuschauen. Aber wer war der Mörder gewesen? Wer hatte den Bolzen abgeschossen und das Tier damit zu so mörderischer Wut angestachelt?
Septimo: Sir Ralph und andere waren wegen eines schrecklichen Verrats an Sir Bartholomew Burghgesh gestorben. War Burghgesh vor all den Jahren auf dem Schiff gestorben oder war er nach England zurückgekehrt? Der Pfarrer von Woodforde behauptete, ihn gesehen zu haben, und der Wirt des Gasthauses ebenfalls. War es dieselbe geheimnisvolle Person, die auch der Wirt in der Goldenen Mitra gesehen hatte? Wenn ja, dann war Burghgesh vor drei Jahren im Advent von mindestens drei Leuten gesehen worden; zur selben Zeit war Sir Ralph Whitton in einen Zustand tiefer Niedergeschlagenheit verfallen. Aber wenn Burghgesh überlebt hatte und nach England zurückgekehrt war, wo verbarg er sich jetzt? Und noch ein Problem: Sir Ralphs Bestürzung hatte sich anscheinend wieder gelegt. Das wäre sicher nicht geschehen, wenn Burghgesh noch lebte. Sir Ralph hätte nur dann Ruhe gefunden, wenn er vor drei Jahren aufgetaucht und dann gestorben wäre.
Octavo: Wer immer die unheimlichen Mitteilungen an Whitton und die anderen gesandt hatte, mußte Zugang zum Tower haben. Waren Burghgesh oder sein Sohn irgendwo in der Stadt versteckt und schickten ihre Botschaften und Komplizen in den Tower?
Nono: Wer profitierte von den Morden? Colebrooke? Der wollte befördert werden, kannte sich gut aus und war bei allen drei Todesfällen im Tower gewesen. Sir Fulke? Auch er hatte einen Gewinn vom Tod seines Bruders, und seine Stiefelschnalle hatte auf dem Eis vor der Nordbastion gelegen. Auch er kannte den Tower gut und war dort gewesen, als die beiden Hospitaliter den Tod gefunden hatten. Und Rastani? Ein verstohlener, feinnerviger Mann, der Sir Ralph und seinen Kameraden ebenfalls Rache geschworen haben mochte. Er kannte sich in der Festung aus und war dort gewesen, als die Hospitaliter gestorben waren. Athelstan schüttelte den Kopf. Das gleiche galt auch für Hammond, diesen recht düsteren Kaplan. Oder waren es Mistress Philippa und ihr Geliebter? Und was war mit Rothand, dem Verrückten, der vielleicht vernünftiger war, als er aussah? Athelstan hob den Kopf und schnappte nach Luft. Rothand! Der bucklige Albino hatte von zugemauerten Geheimverliesen geredet, und Simon, der Zimmermann, hatte etwas Ähnliches gemurmelt.
Athelstan stützte den Kopf auf beide Hände. Dann griff er nach seinem Federkiel und sah sich in der dunklen Küche um. In der Ecke stand ein Stechpalmenzweig. In ein paar Tagen war Weihnachten. Er stand auf, wärmte sich die Finger am Kohlebecken und wünschte, Benedicta wäre dagewesen, um einen Becher Glühwein mit ihm zu trinken. Er dachte an das, was Doktor Vincentius über seine Zuneigung zu der Witwe gesagt hatte, und starrte ins Feuer. War es so offensichtlich? Wußten auch andere in der Gemeinde um seine Gefühle? Er schüttelte den Kopf. Nein, jetzt mußte er sich auf ein anderes Problem konzentrieren.
Ein Fensterladen klapperte, und Athelstan fuhr zusammen, als ein dunkler Schatten auf dem binsenbestreuten Fußboden landete.
»Bonaventura!« murmelte er. Der Kater kam herangetappt und rieb sich majestätisch am Bein des Ordensbruders. »Nun, Herr Kater, seid Ihr gekommen, um zu speisen?«
Der Kater streckte sich und machte dann einen Buckel. Athelstan ging in die Speisekammer, goß Milch in eine rissige Zinnschüssel und sah zu, wie der Kater alles aufschleckte, bevor er sich vorm Feuer ausstreckte. Athelstan ging zum Fenster und schloß die Läden. Fenster, Türen, Gänge, dachte er - und Rothands Gestammel und Simons düstere Warnungen gingen ihm durch den Kopf. Neidisch sah er den Kater an. »Manche haben’s gut«, knurrte er und setzte sich wieder an seine Pergamente. Er nahm sich jeden Namen einzeln vor und baute eine Argumentationskette auf, als gelte es, eine theologische Disputation zu verfassen.
Die Stunden vergingen. Athelstan rieb sich müde die Augen. Nur ein Weg blieb noch: der, den Lady Maude ihm mit ihrer unschuldigen Bemerkung gezeigt und der ihn so abrupt nach Southwark hatte zurückkehren lassen. Athelstan zeichnete einen groben Grundriß des Tower und bedachte die Schlüsse, die er gezogen hatte. Kurz vor Tagesanbruch war er dann endlich zufrieden. Er hatte den Mörder gefunden - mehr aber nicht. Für alles weitere brauchte er Cranston.
Am nächsten Morgen ritt Sir John wie ein junger Ritter die Cheapside hinunter zur Goldenen Mitra. Er hatte das Gefühl zu schweben. Sogar der kalte Morgenwind war warm und sanft wie die Liebkosung einer jungen Frau.
Cranston hatte Lady Maude auf das leidenschaftlichste umarmt, bevor er aufgestanden war. Tränenreich hatte sie sich an seine Brust geschmiegt und gestammelt, daß sie bald mit ihm sprechen wolle. Er hatte süße Nichtigkeiten gemurmelt, ihr den Kopf gestreichelt, und dann war er aufgestanden, hatte sich angekleidet und war nach unten gegangen. Dort hatte er nach einem Becher Sherry gebrüllt, während ein Hausknecht sein Pferd sattelte. Zu wissen, daß er wieder Vater werden würde, machte ihn stolz wie einen Pfau. Er belohnte sich mit einem Schluck aus seinem »wunderbaren Weinschlauch«, wie Athelstan ihn nannte, und genoß den kräftigen roten Saft. Überschwenglich strahlte er in die Runde. Oh, der Tag war herrlich und das Leben eine Wonne!
Sir John streute einer Schar Bettler, die fröstelnd an der Ecke der Mercery hockten, eine Handvoll Pennies hin. Er brüllte den Geflügelmetzgern, die an ihren großen Eisenbottichen standen und Hühner und anderes Federvieh für das Weihnachtsfest säuberten und ausnahmen, fröhliche Beschimpfungen zu. Eine Hure wurde mit nackten Schultern durch die Straßen geführt; auf ihrem kahlrasierten Schädel trug sie eine spitze weiße Mütze. Ein Dudelsackpfeifer schritt vor ihr her, und ein gekritzeltes Schild, das an ihrem schmutzigen Mieder steckte, erklärte sie zur stadtbekannten Schlampe. Cranston hielt die Prozession an und befahl, sie freizulassen.