Ausnahmsweise war Athelstan froh über Cranstons dramatischen Auftritt. Er musterte ihn eingehend.
»Ihr wart am Rotwein, Sir John?«
Cranston tippte sich an die fleischige Nase. »Ein bißchen«, antwortete er zungenschwer.
»Was wird mit dem Friedhof?« jammerte Watkin. »Sir John, unser Priester muß sich darum kümmern.«
»Hau ab, du stinkiges Männchen!«
Watkins Frau stand auf und starrte den Coroner vorwurfsvoll an. »Lord Coroner, ich bin gleich bei Euch«, schaltete sich Athelstan ein. »Watkin, ich kümmere mich um die Sache, sowie ich zurück bin. Inzwischen sorgst du dafür, daß Bonaventura sein Futter bekommt und die Fackeln gelöscht werden. Cecily, stellst du den Aussätzigen Essen hin?«
Das Mädchen starrte ihn töricht an und nickte.
»Vergiß nicht«, fügte Athelstan hinzu, »tagsüber wandern sie ja meist umher und sorgen selbst für sich.«
Er lächelte selig in die Runde seiner Lieblinge und lief dann rasch die vereiste Kirchentreppe hinunter zum Pfarrhaus. Dort schnitt er sich eine Scheibe Brot ab, spuckte aber schon den ersten Bissen wieder aus, denn es schmeckte sauer und abgestanden. »Dann esse ich unterwegs«, dachte er und packte Pergament, Federkasten und Tintenhorn in seine Satteltasche. Philomel, sein altes Schlachtroß, wieherte leise und stupste ihn, was ziemlich lästig war, weil Athelstan gleichzeitig versuchte, den Sattelgurt unter dem gewichtigen Bauch des betagten Rosses zu befestigen.
»Deine Ähnlichkeit mit Cranston wird jeden Tag größer«, brummelte Athelstan.
Er führte Philomel vor die Kirche und lief die Treppe hinauf. Cranston lehnte an einem Pfeiler, gaffte Cecily an und versuchte gleichzeitig, Bonaventura zu vertreiben, der ihm um die Beine strich. Seit seinem Frankreichfeldzug konnte der Coroner Katzen nicht ausstehen; die Franzosen hatten damals ihre Kadaver in eine kleine Festung, die er hatte halten sollen, hineinkatapultiert, um ansteckende Seuchen zu verbreiten. Bonaventura betete den Coroner an; er schien zu wissen, wann dieser in der Nähe war, und erschien jedesmal.
Athelstan wechselte leise ein paar Worte mit Benedicta und lächelte Watkin und den anderen zu. Dann holte er seinen Kapuzenmantel aus dem Chorraum und kam gerade rechtzeitig zurück, um Cranston festzuhalten, der sonst über Ursulas fette Sau gestolpert und kopfüber die Treppe hinuntergefallen wäre. Der Coroner stürmte hinaus. Mit warnendem Blick bestieg er sein Pferd und fluchte dröhnend über Schweine in Kirchen, und daß ihm jetzt nichts besser schmecken würde als ein Stück saftiger Schweinebraten. Athelstan schwang seine Satteltasche über Philomels Rücken, saß auf und führte Cranston davon in den Fennel Alleyway, ehe er noch mehr Unheil anrichten konnte.
»Warum zum Tower, Sir John?« fragte er eilig, um den Coroner abzulenken.
»Später, Mönch!« schnarrte Cranston.
»Ich bin Ordensbruder und kein Mönch«, widersprach Athelstan leise.
Cranston rülpste und nahm einen Schluck aus seinem Weinschlauch. »Was war denn?« wollte er wissen.
»Eine Versammlung des Gemeinderates.«
»Nein, ich meine den Friedhof.«
Athelstan berichtete, und der Coroner wurde ernst.
»Glaubst du, es sind Satansanbeter? Die Schwarzen Fürsten der Friedhöfe?« fragte er leise und lenkte sein Pferd dichter an Athelstan heran.
Der verzog das Gesicht. »Kann sein.«
»Wer sonst«, versetzte Cranston, »würde sich für verwesende Leichen interessieren? Ich würde die Bande gern ausrotten«, erklärte er mit schwerer Zunge. »In meiner Abhandlung über die Londoner Verwaltung …« Zwei blaue Augen musterten Athelstan, ob er etwa Langeweile zeigte, wenn der Coroner sich über sein Lieblingsthema verbreitete. »In meiner Abhandlung«, fuhr er fort, »schreibe ich, daß jeder beim ersten solchen Vergehen eine schwere Buße und beim zweiten Mal die Todesstrafe zu erwarten hat.« Er zuckte die Achseln. »Aber vielleicht ist es ja auch ein nicht so schlimmer Frevel.«
Athelstan schüttelte den Kopf. »So etwas ist nie nicht so schlimm«, antwortete er. »Ich habe einmal in einer kleinen Kirche bei Blackfriars einen Exorzismus miterlebt. Ein Junge war von Dämonen besessen. Er redete in fremden Zungen und schwebte über dem Boden. Er behauptete, die Dämonen seien nach einer Zeremonie in ihn eingedrungen, bei der der Leichnam eines Erhängten als Altar gedient habe.«
Cranston schauderte es. »Wenn du Hilfe brauchst…«, bot er zögernd an.
Athelstan lächelte. »Das ist sehr gütig von Euch, Lord Coroner. Wie immer verschlägt mir Eure Großzügigkeit die Sprache.«
»Jeder Freund unseres Herrn ist auch der meine«, witzelte Cranston. »Selbst, wenn es ein Mönchlein ist.«
»Ich bin Ordensbruder«, erwiderte Athelstan. »Kein Mönch.« Er schaute Cranston wütend an, der warf den Kopf in den Nacken und und lachte brüllend über seine ewigen Witzeleien auf Athelstans Kosten.
Endlich verließen sie die engen Gassen, wo sie stets dem Schnee ausweichen mußten, der von den steilen Dächern herunterrutschte. Sie bogen in die Hauptstraße ein, die zur London Bridge führte. Die gepflasterte Straße war vereist und von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die im beißend kalten Wind unversehens hochwirbelte. Ein paar Stände waren offen, aber die Händler schützten sich mit Segeltuchplanen gegen den scharfen Wind, der tiefdunkle Schneewolken über den Himmel trieb.
»An einem solchen Tag sollte man zu Hause bleiben«, knurrte Cranston.
Ein Reliquienhändler stand vor dem Gasthaus Zum Abt von Hydes und wollte einen Stab verkaufen, der angeblich Moses gehört hatte. Zwei Gefangene, aneinandergekettet und aus dem Gefängnis Marshalsea entlassen, wo man die Schuldner einkerkerte, bettelten um Almosen für sich selbst und andere arme Unglückliche. Athelstan warf ihnen ein paar Pennies zu; ihre blaugefrorenen Füße hatten sein Mitleid erregt.
Ihre beiden Pferde waren gut beschlagen, aber die wenigen Leute, die unterwegs waren, drohten auf dem tückischen Glatteis das Gleichgewicht zu verlieren. Sie tasteten sich behutsam voran und klammerten sich an jede Häuserkante. Trotz allem, bemerkte Cranston, war die Justiz nicht untätig; vor dem Hospital des Heiligen Thomas war ein Bäcker auf einen Bock gebunden, weil er verschimmeltes Brot verkauft hatte. Athelstan mußte an das alte Brot denken, das er ausgepackt hatte, und sah zu, wie der Unglückliche von einem Esel durch die Straßen gezogen wurde. Ein betrunkener Dudelsackpfeifer schlitterte hinterdrein und spielte eine schrille Melodie, um das Gestöhn des Bäckers zu übertönen. Am Pranger zwang man einen schiefmäuligen Schankwirt, sauren Wein zu saufen, und eine Dirne, der die Fesseln tief ins Fleisch schnitten, wurde von einem schwitzenden Gerichtsdiener ausgepeitscht; mit langen, dicken Stechpalmenzweigen prügelte er auf den Rücken der armen Frau ein.
»Sir John«, sagte Athelstan leise, »das arme Weib hat genug.«
»Zum Teufel mit ihr«, zischte Cranston. »Wahrscheinlich hat sie’s verdient.«
Athelstan schaute dem Coroner in das runde, rote Gesicht. »Sir John, um des Erbarmens willen - was ist los?«
Athelstan spürte, daß der Coroner unter seiner gespielten Vitalität und Weinseligkeit entweder sehr erbost oder sehr besorgt war. Cranston blinzelte und grinste gezwungen. Er zog sein Schwert, trieb sein Pferd zur Seite hinüber zu dem Pfahl und schlug die Seile durch, mit denen die Dirne festgebunden war. Die Frau sank in einem blutigen Haufen zu Boden. Der Gerichtsdiener kam drohend auf Cranston zu; er bleckte die Zähne, und sein häßliches Gesicht wirkte noch grotesker. Sir John schwenkte sein Schwert und zog sich den Schal vom Gesicht.
»Ich bin Cranston, der Coroner der Stadt!« donnerte er.
Der Mann wich hastig zurück. Sir John wühlte unter seinem Mantel herum, zog ein paar Pennies hervor und warf sie der Hure zu.
»Verdiene dir ein ehrliches Stück Brot!« knurrte er.
Ein wütender Blick riet seinem Begleiter, lieber keinen Kommentar abzugeben. Sie ritten weiter, vorbei an den Fischteichen und auf die riesige London Bridge. Die Brücke war vereist und von Nebel verhüllt. Athelstan hielt an und legte Cranston eine Hand auf den Arm.