All dies macht Machfus zu einem wahrhaft modernen Autor. Man darf sogar sagen, daß mit Machfus die Moderne in der arabischen Literatur überhaupt erst beginnt. Vor Machfus' Geburt 1911 findet man jedenfalls kaum arabische Bücher, denen man dieses Prädikat ohne Abstriche zuerkennen möchte. Man bedenke: Als erster ernstzunehmender ägyptischer Roman gilt die 1914 publizierte Erzählung »Sainab« von Muhammad Hussain Haikai (1888—1956) — ein eher dilettantisches Machwerk im romantisierenden Stil. Der arabische Roman, wie wir ihn heute kennen, ist erst in der Begegnung mit dem Westen entstanden. Erstaunlicherweise kannte die klassische arabische Literatur — anders als etwa die alte persische oder indische — kaum epische Formen, lediglich meist belehrende Geschichten- und Anekdotensammlungen, die sogenannte »Adab«-Literatur. Heldenepen finden sich nur in der oralen, umgangssprachlichen Literatur, und noch die Sammlung »Tausendundeine Nacht«, die zwar ebenfalls aus einzelnen Geschichten besteht, aber mit ihrer Rahmenhandlung und dank längerer Erzählzyklen unserer Vorstellung von »Roman« recht nahekommt, galt in der klassischen Zeit aufgrund ihrer einfachen, oft fehlerhaften Sprache als minderwertige Literatur.
Die ersten Anstöße für die Araber, sich mit der bis dahin weitgehend ignorierten europäischen Zivilisation und schließlich auch mit deren Literatur zu beschäftigen, brachte Napoleons Ägyptenfeldzug 1798. Zahlreiche arabische Gelehrte und Studenten gingen im Lauf des 19. Jahrhunderts zu Studienzwecken nach Paris, um die Errungenschaften des Westens kennenzulernen. Auf diesem Weg wurde auch die Form des Romans in der arabischen Welt bekannt. Die ersten arabischen Erzählungen und Dramen waren dann freie Adaptionen abendländischer Stoffe oder aber, nach dem Vorbild Walter Scotts, Historienromane mit Themen aus der arabischen Geschichte, so etwa bei dem Libanesen Gurgi Zaidan (1861—1914). Dieses Genre war so beliebt und erfolgreich, daß noch Machfus in den dreißiger Jahren zunächst Historienromane verfaßte — mit Stoffen aus der ägyptischen Geschichte und mit einem beträchtlichen nationalistischen Pathos. In jener Zeit war das einzige ägyptische Prosawerk von internationalem Format, das zugleich ein realistisches Bild der ägyptischen Gesellschaft entwarf, Taha Hussains (1889—1973) bis heute lesenswerte Kindheitsautobiographie »Die Tage« (1929).
Um die späte Entwicklung der arabischen Prosaliteratur und die besondere Leistung von Machfus nachzuvollziehen, reicht es aber nicht, nur auf äußere Faktoren wie die verspätete Begegnung mit der europäischen Literatur zu verweisen. Die eigentliche Gattung der arabischen Literatur war seit jeher nicht Prosa, sondern die Lyrik, deren früheste, vorislamische Zeugnisse anderthalb Jahrtausende alt sind und bis in die Gegenwart eine unglaubliche Wertschätzung genießen. Die Fixierung auf lyrische Formen hatte die Entwicklung anderer Gattungen erschwert, zumal mit dem Islam ein literaturskeptischer und sprachkonservativer Einfluß hinzutrat. Der Schöpfer eines Kunstwerks befindet sich gemäß frommer Lesart immer in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zu Gott. Das gilt zumal für jedes sprachliche Kunstwerk, da sich die arabische Literatur derselben Sprache bedient, mit der Gott den Propheten Mohammed (570—632) im Koran angeredet hat — und der Koran besteht aus Prosa, wenngleich sehr rhythmischer, assonanzenreicher, oft sogar gereimter Prosa.
Man muß dieses hergebrachte, religiös aufgeladene Sprach- und Literaturverständnis nicht teilen (und die meisten zeitgenössischen muslimischen Autoren teilen es sicher nicht), um ihm dennoch ausgesetzt zu sein und seine Wirkungen zu spüren. Es hat nämlich zu einer grammatikalischen und morphologischen Kanonisierung des im siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel verbreiteten Arabisch geführt, zu dessen wenigen autoritativen Zeugnissen außer dem Koran nur die vorislamische Dichtung zählt. Die aus diesem sehr beschränkten Sprachmaterial von den arabischen Grammatikern im achten Jahrhundert abgeleiteten Regeln und der überlieferte Lautstand der Sprache gelten bis heute als die einzig richtige Version der arabischen Schrift- und Hochsprache, und dies für rund 200 Millionen Sprecher in einem Gebiet, das sich vom Atlantik im Westen bis zum Persischen Golf im Osten erstreckt. Mit anderen Worten: Die heutigen arabischen Schriftsteller, und unter ihnen natürlich Machfus, verwenden, wenn sie nicht, wie es nur wenige tun, im Dialekt schreiben, exakt dieselbe Sprache mit derselben Grammatik und derselben Morphologie wie die arabischen Dichter vor anderthalb Jahrtausenden auf der arabischen Halbinsel. Die lokalen Dialekte, die die eigentliche Muttersprache der Autoren bilden, haben sich unterdessen auf natürliche Weise weiterentwickelt und differieren so stark vom Hocharabischen wie etwa das Mittelhochdeutsche von der deutschen Gegenwartssprache. Diese sprachliche Grundsituation stellt alle arabischen Autoren vor erhebliche Probleme, angesichts deren die Vorteile verblassen, wie etwa der Vorteil, daß ein hocharabischer Roman in der ganzen arabischen Welt gelesen werden kann, wenn die Leser eine halbwegs akzeptable Schulausbildung haben, oder daß dem Schriftsteller ein viel umfangreicheres und älteres Vokabular zur Verfügung steht (wovon eher die Lyriker profitieren).
Zu den großen Problemen zählt zum Beispiel, daß die im realistischen Roman übliche direkte Rede in der Hochsprache zwangsläufig gekünstelt wirkt. Keine der Figuren würde in der Realität so reden, wie es in einem hochsprachlichen arabischen Roman steht, und damit ist der Begriff des literarischen Realismus, unter dem viele Romane von Machfus aus den vierziger und fünfziger Jahren zu subsumieren sind, in mancher Hinsicht unglaubwürdig. Dies gilt zumal für Theaterstücke, ein Genre, in dem sich Machfus ebenfalls kurzzeitig versuchte, aber, eben aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten, nicht Fuß faßte. Bis heute leidet das arabische Theater an diesem sprachlichen Dilemma und tendiert daher in jüngster Zeit mehr und mehr zum Dialekt, wie übrigens auch die arabischen Spielfilme, deren wichtigstes Produktionsland seit den dreißiger Jahren Ägypten ist. Auch Machfus hat Drehbücher geschrieben oder an ihnen mitgearbeitet, und bei der breiten Bevölkerung wurde er als Schriftsteller erst durch die Verfilmung seiner realistischen Romane bekannt, zum Beispiel (1963) des Romans »Midaqq-Gasse« von 1947.
Eine der größten schriftstellerischen Errungenschaften von Machfus liegt nun auf diesem problematischen Feld des Umgangs mit der arabischen Hochsprache. Diese Leistung, die Machfus in der arabischen Welt ebensoviel Renommee verschafft hat wie Plot und Inhalt seiner Romane, entzieht sich allerdings denjenigen Lesern, die darauf angewiesen sind, seine Bücher in Übersetzung zu rezipieren. Sie besteht darin, zwar in einem absolut korrekten Hocharabisch zu schreiben, gleichwohl aber diese Sprache verblüffend natürlich klingen zu lassen. Dies gelingt durch einen Verzicht auf ungebräuchliche, allzu klassische Worte, auf komplizierte grammatische Fügungen und seit alters in der Schriftsprache übliche Manierismen. Noch der erwähnte, nur eine Generation vor Machfus geborene Taha Hussain schrieb seine Bücher in den dreißiger Jahren in einem ungleich klassischeren Stil. Bei Machfus hingegen wirken sogar die hochsprachlichen Dialoge lebensecht, so auch in dem vorliegenden, zum größten Teil aus Gesprächen bestehenden Roman »Das Hausboot am Nil«.
Nagib Machfus wurde 1911 als jüngstes von sieben Kindern in eine kleinbürgerliche Familie in der Altstadt Kairos geboren, wo zahlreiche seiner Romane spielen. Der Vater war ein kleiner Angestellter im Staatsdienst. Als es der Familie wirtschaftlich etwas besserging, zog sie in ein moderneres, im 19. Jahrhundert nach europäischem Vorbild errichtetes Viertel. Machfus profitierte vom jungen staatlichen Bildungssystem in Ägypten und konnte die Oberschule besuchen und studierte danach Philosophie an der 1908 gegründeten ersten säkularen und staatlichen Universität Ägyptens. Nach Abschluß des Studiums schlug er die Beamtenlaufbahn ein, die, jedenfalls in Ägypten zu dieser Zeit, zwar nicht sehr aufregend war und keine sonderlichen Aufstiegsmöglichkeiten bot, dem angehenden Autor jedoch viel Zeit zum Schreiben ließ. Schon während des Studiums hatte er zahlreiche Artikel für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben sowie Kurzgeschichten publiziert. Seine ersten Romane folgten, wie bereits erwähnt, der Mode historisierender Erbauungsliteratur mit nationalistischer Tendenz. In dieser sogenannten »pharaonischen Phase« seines Schaffens publizierte Machfus zwischen 1939 und 1944 drei Romane, die er allerdings schon zwischen 1935 und 1938 verfaßt hatte, wie der Übersetzer Hartmut Fähndrich in seiner Monographie »Nagib Machfus« (1991) festhält. Reminiszenzen an diese Werkphase klingen übrigens noch in dem viel späteren, 1966 publizierten »Das Hausboot am Nil« an, wenn Anis Zaki, der Protagonist, im Haschischrausch Visionen mit Szenen aus der altägyptischen Epoche hat.