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Die »pharaonische« Werkphase fällt in die Zeit nationaler Erweckung und verstärkter Unabhängigkeitsbestrebungen in Ägypten, das offiziell zwar eine Monarchie war, de facto aber unter britischer Herrschaft stand. Zu den einschneidenden frühen Erlebnissen von Machfus zählen die als »Revolution« bezeichneten großen Demonstrationszüge, die 1919 aufgrund der Unzufriedenheit mit der von den Westmächten festgelegten Nachkriegsordnung die britische Herrschaft ins Wanken brachten und deren Zeuge Machfus als Kind wurde. Die Ereignisse von 1919 bilden auch den zeithistorischen Ausgangspunkt von Machfus' wohl berühmtesten Romanen, der sogenannten »Trilogie« (1956—1957).

Die Desillusionierung durch das weitgehende Scheitern der mit der »Revolution« von 1919 angestoßenen Unabhängigkeitsbestrebungen mag mit dazu beigetragen haben, daß sich Machfus Ende der dreißiger Jahre der ägyptischen Gegenwart zuwandte. Das nationalistische Engagement über den Umweg des im alten Ägypten spielenden Historienromans dürfte er jedoch auch in künstlerischer Hinsicht als unbefriedigend empfunden haben. Bezeichnend dafür ist, daß die nun entstehenden realistischen Werke meistens mit einer Katastrophe enden, während die pharaonischen Romane, dem Konzept der Erbauungsliteratur entsprechend, noch mit einem Happy-End schlossen. Ein zweites, für das Werk von Machfus einschneidendes zeitgeschichtliches Ereignis war die Revolution der sogenannten freien Offiziere um den charismatischen Gamal Abdel Nasser im Jahr 1952, welche Ägypten die langersehnte, faktische Unabhängigkeit eintrug. Das Regime Nasser entpuppte sich jedoch bald als sozialistische Militärdiktatur, deren oberste Anliegen die Industrialisierung des Landes und die Verstaatlichung des Großgrundbesitzes waren. Nasser hatte zwar gegen erhebliche Widerstände der etablierten politischen Eliten anzukämpfen, genoß aber nach der siegreich überstandenen Konfrontation mit Frankreich und England während der Suez-Krise 1956 die Unterstützung der Massen. In diese Ära, die mit Nassers überraschendem Tod 1970 endet, fällt die der realistischen folgende Schaffensperiode von Machfus.

Obwohl erst einige Jahre später veröffentlicht, hatte Machfus die »Trilogie« bereits 1952, noch vor der Revolution, abgeschlossen. Im selben Jahr heiratete Machfus, und dann schrieb er mehrere Jahre zunächst nichts, bis er mit dem allegorischen Roman »Die Kinder unseres Viertels«, der aufgrund seiner Kritik an den monotheistischen Religionen im Westen sehr bekannt wurde, 1959 erneut die literarische Bühne betrat. Die Welt, die er in seinen realistischen Romanen geschildert hatte, befand sich nach den fieberhaften Modernisierungsschüben unter Nasser in der Auflösung. An diese Schreibweise anzuknüpfen schien daher weder möglich noch sinnvoll. Jetzt kommt es daher zu der Phase seines Werks, der auch das vorliegende Buch, »Das Hausboot am Nil«, zuzurechnen ist und in der Machfus zugleich am modernsten und dem Zeitgeist am nächsten ist — so nah, daß es heute, weniger als ein halbes Jahrhundert später, schon wieder historisch wirkt. Zu dieser mittleren Werkphase zählen auch die ebenfalls auf deutsch vorliegenden Werke »Der Dieb und die Hunde« sowie »Miramar«.

Im Vergleich zu den meisten anderen Erzähltexten von Machfus überrascht »Das Hausboot am Nil« durch die Einheit des Schauplatzes, die Kargheit der Handlung und die Konzentration auf den Dialog. Es erinnert an ein Theaterstück, und man darf vermuten, daß es zunächst auch als Theaterstück geplant war, sowie die Figur Sammara ebenfalls ein Theaterstück schreiben möchte — und damit scheitert. Auf für Machfus ungewöhnliche Weise werden die intellektuellen Hintergründe und die entsprechende Literatur selber thematisiert. Machfus, der Ägypten kaum je verließ, war Mitte der sechziger Jahre offensichtlich über die Themen und Diskussionen der westlichen Literatur bestens informiert. Sartre, Camus und Beckett werden im Roman namentlich erwähnt, die Debatten pendeln zwischen einer schon nicht mehr glaubwürdigen »littérature engagée« (Sartre) und einer gleichwohl noch als dekadent empfundenen »l'art pour l'art«. Das Hausboot selbst stellt dabei eine Art experimenteller Raum dar, in dem die Figuren, losgelöst von ihren alltäglichen Zwängen, von sozialen Bindungen und den traditionellen Verhaltensweisen ihrer Kultur, alternative Lebensentwürfe proben und diskutieren, ohne damit freilich zu einem Ziel zu kommen oder etwas zu bewirken, das auch außerhalb dieses Raums Gültigkeit hätte.

Mit quälender Insistenz heben in jedem Kapitel die gleichen Diskussionen von vorne an, ohne daß ein Fortschritt erkennbar wäre. Abwechslung ergibt sich allein durch neu hinzutretende Figuren, vor allem die Frauen. Aber selbst Sammara mit ihrer Suche nach Ernsthaftigkeit und ihrem ostentativen Verzicht auf die Haschischpfeife durchbricht diesen Zirkel nicht, sondern gerät nur selber in den Strudel des Nihilismus. Im Kreis dieses Symposions erscheinen alle Werte, die in den sechziger Jahren den öffentlichen Diskurs bestimmen, plötzlich unglaubwürdig und lächerlich: Sozialismus, Revolution, Befreiungskampf und der in der arabischen Welt nach wie vor hochgehaltene Heroismus, aber auch persönliche Tugenden wie Verantwortung. Mit einer derartigen Gesellschaftsschilderung war Machfus seiner Zeit exakt ein Jahr voraus. Als der Roman 1966 erschien, waren die Ideale der nasseristischen Revolution nämlich noch keineswegs diskreditiert. Aber nur ein Jahr später sollte genau dies geschehen, als Nasser entgegen seiner triumphalen Rhetorik im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel 1967 urplötzlich eine schmähliche Niederlage erlitt und zumindest unter kritischen Geistern seine Glaubwürdigkeit verlor. Eine weitere, geradezu prophetische Parallele zu den späteren politischen Ereignissen ergibt sich aus dem Verhalten der Personen nach dem Unfall und ihrer Fahrerflucht. Ragab, der letztlich Schuldige, ist nicht gewillt, die Verantwortung auf sich zu nehmen, und die meisten anderen sind bereit, ihn zu decken, außer Sammara und dem in einer eigentümlichen Wendung plötzlich ernsthaft gewordenen Haschischraucher Anis. Ganz ähnlich wie Ragab verhielt sich aber auch Nasser, wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen. Zunächst erklärte er aufgrund der Niederlage pathetisch seinen Rücktritt, dann ließ er sich davon überzeugen, daß er doch gebraucht werde, und trat sein Amt bald wieder an. Wirkliche Konsequenzen hatte die Niederlage für niemanden.

Wirkt der ostentative Nihilismus der Hausboot-Besucher zuweilen ein wenig forciert, liegen den Gestalten jedoch durchaus reale Personen zugrunde, wie Machfus in einigen späteren autobiographischen Erinnerungsbüchern gezeigt hat (etwa dem Band mit Porträts von Freunden und Weggefährten, der auf deutsch unter dem Titel »Spiegelbilder« erschienen ist). Eine ganz besondere Rolle spielt unter den Charakteren des Buchs eine scheinbare Nebenfigur, der alte Diener Amm Abduh. Während die Besucher des Hausbootes kaum mehr als Funktionen des Zeitgeistes sind, diesem ausgeliefert scheinen und ihm keine Charakterfestigkeit entgegenzusetzen wissen — selbst Sammara scheitert mit ihrem Versuch, die Ernsthaftigkeit wiederzugewinnen —, wirkt Amm Abduh wie der Fels in der Brandung und wird genau so, nämlich als urzeitlicher Riese, dargestellt. Er stammt aus einer anderen Welt, die Verdorbenheit der Hausbootbewohner perlt an ihm ab, obwohl er alles aus nächster Nähe mitbekommt.