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In der Gruppe der auftretenden Charaktere verkörpert er als einziger den in der Tradition verhafteten Muslim. Jeden Morgen schreitet er mit den Gläubigen zum Gebet, von den Zweifeln der übrigen ist er nicht angekränkelt. Auffälligerweise stört er sich jedoch auch nicht an den Verhaltensweisen der anderen, ja, er hilft ihnen sogar, indem er ihnen Haschisch besorgt und Prostituierte anheuert, obwohl dies seiner eigenen Ethik eigentlich widersprechen müßte. Einerseits verkörpert er somit die positiven, stabilisierenden Aspekte der traditionsverhafteten Elemente der ägyptischen Gesellschaft — ohne ihn würde die Runde auf dem Hausboot gar nicht fortexistieren können! Zum anderen steht er für die Verantwortungslosigkeit und Selbstzufriedenheit der religiösen Traditionalisten. Sie und die Modernen leben aneinander vorbei, als hätten sie nichts gemeinsam und müßten nicht eigentlich voneinander lernen, um sich in der amorphen Realität der modernen Welt zurechtzufinden. Denn sie sitzen in ein und demselben Boot. Mag eine solche, in Ansätzen allegorische Konstellation für das erzählerische Verfahren von Machfus auch typisch sein und dem Leser in zahlreichen seiner Werke begegnen, ist »Das Hausboot am Nil« schon aufgrund seiner Handlungsarmut und der Konzentration auf den Dialog eher ungewöhnlich und gewiß nicht das am leichtesten zu rezipierende Werk von Machfus. Um so erstaunlicher ist, daß dies der erste seiner Romane war, der in Westdeutschland publiziert wurde. 1979 war »Der Dieb und die Hunde« in der DDR erschienen, wo aus politischen Gründen die Übersetzung von Literatur der Dritten Welt — potentieller sozialistischer »Bruderstaaten« — stärker gefördert wurde als in Westdeutschland. Hier war es der bis heute existierende Kleinverlag »Edition Orient«, der auf Anregung des in Deutschland lebenden ägyptischen Literaturwissenschaftlers Nagi Naguib eine arabische Buchreihe herausgab, in der im Jahr 1982 in der vorliegenden Übersetzung von Nagi Naguib »Das Hausboot am Nil« erschien.

Wirklich entdeckt wurde Machfus in Europa jedoch erst dank des Literaturnobelpreises, den er 1988 als erster und bis heute einziger arabischer Autor erhielt. Derzeit ist Machfus der mit Abstand meistübersetzte und meistgelesene Arabisch schreibende Autor der Gegenwart. Bis weit in die siebziger Jahre ist er in Themenwahl und Darstellungsart auf der Höhe seiner Zeit gewesen. Danach haben auch die arabischen Schriftsteller experimentellere und radikalere Wege eingeschlagen, auf denen ihnen Machfus nicht mehr zu folgen bereit war. Er schrieb weiter wie zuvor, und manchmal sogar noch besser, etwa das wunderbar weise Alterswerke »Die Nacht der Tausend Nächte« (1982; dt. 1998), eine Fortschreibung von »Tausendundeiner Nacht«, welche die moralischen Fragen, die Machfus' Kosmos durchziehen, auf märchenhafte Weise noch einmal durchdeklinieren. Das große Thema einer verbindlichen Moral in Zeiten sich auflösender gesellschaftlicher Strukturen und Wertvorstellungen findet man bis heute in allen Werken von Machfus. Dabei ist der Autor mit Werturteilen in der Beschreibung der moralischen Dilemmata seiner Helden zweifellos sehr zurückhaltend. Er moralisiert nicht, jedenfalls nicht offensichtlich. Zwischen den Zeilen wird der erfahrene Machfus-Leser dann aber doch sehr genau die Einstellungen oder Vorbehalte des Autors seinen Figuren gegenüber herauslesen können. Solche Sätze, in denen die Weltanschauung des Autors ungeachtet aller Verschleierungsbemühungen durch das Textgewebe schimmert, tauchen in »Das Hausboot am Nil« verschiedentlich in den Dialogen auf. Wenn die Diskutierenden über den »modernen Sinn (…) von Philosophie, die Diebstahl, Zuchthaus und sexuelle Abnormitäten à la Genet umfaßt«, spotten, charakterisieren sie sich nicht nur in zynischer Absicht selber, sondern tun gleichzeitig auch diese Art von Philosophie als nicht ernst zu nehmend ab. Damit aber läßt der Autor seine Figuren eben die Zeitgenossenschaft verleugnen, die ihre Essenz ausmacht und auf deren literarischen Errungenschaften auch der Roman selber beruht. Sartres 1952 erschienenes Buch über Jean Genet (»Saint Genet, comédien et martyr«), der nach einer Karriere als Dieb ein bekannter Dramatiker wurde und aus seiner Homosexualität keinen Hehl machte, war ja im Gegensatz zur Darstellung bei Machfus durchaus ernst gemeint und richtete sich gegen dieselbe (nach Sartre heuchlerische) bürgerliche Wohlanständigkeit, vor der auch die Figuren auf dem Hausboot fliehen. Die positive Identifikation mit oder zumindest das Verständnis für solche Gestalten wie Genet, wozu Sartre aufrufen will, verweigert indessen Machfus seinen Figuren, deren Zeitgenossenschaft und Modernität dadurch eher oberflächlich wirkt. Die Gesellschaft, die Machfus schildert, ist dekadent, aber die Perspektive, aus der Machfus sie schildert und die auch den geistigen Horizont der Figuren beschränkt, ist es, anders als die sich explizit zur revolutionären Dekadenz bekennende Lebenseinstellung Sartres, nicht.

Man könnte aus diesem Beispiel einen grundsätzlichen Unterschied im Verständnis oder in der Rezeption von Moderne und Avantgarde zwischen Orient und Okzident herauslesen. Bis heute trägt dieser Unterschied dem Westen von seiten vieler traditionell eingestellter Muslime den Vorwurf der Dekadenz und Unmoral ein. Während der Westen die sexuelle Freiheit des Individuums als essentielle Errungenschaft der Moderne begreift, wird diese Freiheit in der arabischen Literatur bis weit in die achtziger Jahre als moralischer Verfall gedeutet. Erst eine jüngere, in den achtziger und neunziger Jahren auftretende Schriftstellergeneration hat es gewagt, mit diesen traditionellen Vorstellungen zu brechen, die sich bei Machfus, aller Modernität der Form ungeachtet, immer wieder finden. Die kleinbürgerlich-konservative Grundhaltung macht die Größe und die Beschränkung des Werks von Machfus gleichermaßen aus. Dieselbe Zurückhaltung, die verhindert, daß sich seine Werke in die höchsten Höhen des Literaturhimmels aufschwingen, sorgt dafür, daß sie nie in extreme Niederungen oder selbstgefällige Experimente abgleiten. Machfus ist eben kein Revolutionär, kein Existentialist, kein Bilderstürmer und in der Kunst kein Experimentator und Avantgardist. Aber zeit seines Lebens ist Machfus auch in politischer Hinsicht immer ein umsichtiger, moderater Geist gewesen, der allen ideologischen Versuchungen widerstanden hat, ohne deswegen auf ein klares Engagement zu verzichten. Seine lesenswerte Nobelpreisrede, die in einen flammenden Appell an die Erste Welt mündet, endlich ihrer Verantwortung gegenüber der Dritten gerecht zu werden, zeugt davon.

In aufgeregten Zeiten wirkt das Machfussche Credo, das persönliche ebenso wie gesellschaftliche Verantwortung betont, auf Konsens bedacht ist und radikal individuellen Lebensentwürfen ebenso eine Absage erteilt wie jeglichem politischen Fanatismus, wenig spektakulär. Es kann passieren, daß man achtlos oder sogar abschätzig darüber hinwegliest. Und doch wird von Jahr zu Jahr klarer, daß es von einem Humanismus zeugt, den nicht nur die arabische Welt heute dringend benötigt.

Stefan Weidner
Köln, Juli 2004