Am nächsten Morgen stand die Sache mit dem Sikh in den Nachrichten. Nicht seinetwegen war ich ins Internet gegangen, doch irgendein dreister Wurm hatte mir das Informationsportal nachrichten.ru als Startseite definiert, und ich war noch nicht dazu gekommen, das zu ändern. Ich zwang mich, die Meldung bis zu Ende zu lesen:
GESCHÄFTSMANN AUS INDIEN BEGING SELBSTMORD VOR DEN AUGEN DER SICHERHEIT
Das Moskauer Hotel National entwickelt sich im öffentlichen Bewusstsein immer mehr zu einer Gefahrenzone. Noch ist der Terroranschlag in seinem Eingangsbereich den Moskauern in frischer Erinnerung, da ereignet sich ein neuer spektakulärer Vorfalclass="underline" Ein Geschäftsmann (43) aus Indien, Bundesstaat Punjab, nahm sich durch einen Sprung aus dem Fenster im vierten Stock das Leben. So wird zumindest von zwei im Hotel angestellten Wachleuten behauptet, die zum Zeitpunkt der Tragödie bei ihm waren. Nach ihren Aussagen hatte der Gast aus Indien sie durch Betätigen der Notrufsignalleine ins Zimmer gerufen; bei ihrem Erscheinen habe der Inder Anlauf genommen und sei ohne ersichtlichen Grund aus dem Fenster gesprungen. Nach Aufschlagen auf dem Pflaster war der Geschäftsmann sofort tot. Ersten Ermittlungen zufolge hatte er kurz zuvor Besuch von einer jungen Dame aus der Halbwelt. Die Untersuchungen dauern an.
Wieso vierter Stock, fragte ich mich zunächst, er hatte doch Zimmer dreihundertneunzehn? Aber dann fiel mir ein, dass die Nummerierung nach westeuropäischer Mode eingerichtet war, Parterre und erster Stock wurden nicht gezählt, die Dreihundertneunzehn lag tatsächlich im vierten.
Von da wanderten meine Gedanken zu dem rätselhaften Wort Halbwelt. Warum eigentlich nicht Viertelwelt? Mit dieser Art Wortbildung ließe sich der moralische Niedergang einer Frau mathematisch exakt bestimmen. Da wäre bei mir in zweitausend Jahren bestimmt ein stattlicher Nenner aufgelaufen …
Endlich kam in mir doch so etwas wie Scham auf: Hatte ich denn gar kein Mitleid? Da war ein mir in gewisser Weise nahestehender Mensch gestorben – ich aber zählte Etagen und stellte Bruchrechnungen an. Auch wenn die Nähe nur zeitweilig-vorbehaltlich-halluzinatorisch gewesen war: Es gehörte sich, Mitleid zu empfinden, wenigstens in einer vagen, der Art unserer Begegnung angemessenen Form. Doch ich empfand keines – das Herz verweigerte es rundheraus. Tote Hose, wie meine jungen Mitstreiterinnen aus der Provinz dazu sagen. Stattdessen dachte ich noch einmal über die möglichen Ursachen für die Ausschreitung von gestern nach:
1. konnte es an der Astralkulisse im Hotel National gelegen haben, wo in einer Ehrengäste des Hauses betitelten Fotogalerie Isadora Duncan neben Dzierzynski hängt;
2. konnte der Vorfall die karmische Folge irgendeines dieser blutigen Geschäftsrituale gewesen sein, die sie in Asien so sehr lieben, oder
3. eine indirekte Folge der Abkehr Indiens von der Lehre Buddhas im Mittelalter;
4. hatte der Sikh insgeheim doch die Göttin Kali angebetet – sonst hätte er nicht noch im Sprung aus dem Fenster »Kali ma!« gerufen.
Zur Erläuterung sei angemerkt, dass bis zu fünf innere Stimmen in mir wohnen, von denen wiederum jede ihren eigenen inneren Dialog führt; außerdem können sie beim geringsten Anlass miteinander in Streit geraten. Ich mische mich da nicht ein, höre nur aufmerksam zu, um womöglich einen Hinweis auf des Rätsels Lösung zu erhaschen. Namen haben die einzelnen Stimmen keine. Diesbezüglich bin ich von schlichtem Gemüt – manche Werfüchse haben an die vierzig solcher Stimmen, jede heißt irgendwie, und die Namen sind klangvoll und komplex.
Die alten Werfüchse behaupten, dass diese Stimmen den Seelen gehört haben, die von uns in Zeiten der Ursuppe geschluckt worden sind: Der Legende nach haben sie sich damals in uns eingenistet, sind eine Art Symbiose mit unserem eigenen Wesen eingegangen. Aber das sind wohl eher Ammenmärchen, denn alle diese Stimmen sind meine, auch wenn jede verschieden ist. Und wollte man den Überlegungen der alten Werfüchse folgen, so ließe sich behaupten, auch ich wäre eine von irgendwem in alter Zeit verschluckte Seele. Eine sinnlose Umstellung von Summanden, bei der sich an der Summe A Huli nichts ändert.
Aufgrund dieser Stimmen jedenfalls denken Werfüchse anders als Menschen. Der Unterschied ist, dass nicht nur ein Denkprozess in unserem Bewusstsein abläuft, sondern mehrere parallel. Der Verstand geht verschiedene Wege auf einmal und kann sehen, auf welchem von ihnen zuerst die Wahrheit aufblitzt. Um diese Besonderheit meines Innenlebens zu verdeutlichen, bezeichne ich die verschiedenen Ebenen meines inneren Gedankenaustauschs mit den Ziffern 1., 2., 3. etc.
Diese Denkprozesse kommen einander nie ins Gehege, sie verlaufen absolut autonom, doch mein Bewusstsein ist in jeden einbezogen. Man kennt das von Zirkusartisten, die mit einer größeren Anzahl von Gegenständen jonglieren. Was die mit ihren Gliedmaßen zuwege bringen, das tue ich mit dem Geist, so lässt sich das sagen. Aufgrund dieser Eigenart neige ich dazu, Listen aufzustellen, alles in Punkte und Unterpunkte zu zerlegen – auch wo nach menschlichem Ermessen keine Notwendigkeit dafür besteht. Sollten derlei Register auf diesen Seiten hin und wieder auftauchen, bitte ich also um Nachsicht. Genau so spielt sich das alles in meinem Kopf ab.
Ich holte mir den toten Sikh so plastisch wie möglich vor Augen und sprach ein dreifaches Mantra für sein Seelenheil, dann wechselte ich nach reuters.com, um zu erfahren, was es Neues auf der Welt gab. Auf der Welt war alles genau so wie in den letzten zehntausend Jahren. Die Schlagzeile America Ponders Mad Cow Strategy bereitete mir Spaß. Anschließend öffnete ich mein E-Mail-Postfach.
Außer einem Angebot zur Penisverlängerung und einer verzipten Datei, die ich schon aufgrund des leidigen Betreffs (Britney Blowing a Horse) lieber nicht öffnete, gab es eine freudige Überraschung: einen Brief von meiner Schwester I Huli, von der ich schon länger nichts gehört hatte.
Schwesterlein I kannte ich seit der Zeit der Streitenden Reiche. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren. Vor vielen Jahrhunderten war sie ganz China als kaiserliche Konkubine mit Namen Fliegende Schwalbe ein Begriff. Infolge ausgiebiger Beobachtung ihrer Flüge starb der Kaiser zwanzig Jahre vor der Zeit. Hierfür wurde I Huli von den Schutzgeistern bestraft, sie führte fortan ein Schattendasein, spezialisiert auf reiche Aristokraten, die sie in der Stille ihrer provinziellen Landgüter, unbemerkt von aller Welt, ausnahm. Die letzten paar Hundert Jahre hatte sie in England gelebt.
Der Brief war ganz kurz:
Grüß Dich, Rotschwänzchen,
wie ist die Lage? Hoffe, bei Dir ist alles o.k. Entschuldige, dass ich Dich aus nichtigem Anlass behellige, aber ich bräuchte dringend eine Auskunft von Dir Meinen Recherchen zufolge existiert in Moskau eine Kathedrale Christi Schutzmann, die sie erst bis auf den letzten Stein geschleift haben, um sie hinterher genauso wiederaufzubauen. Stimmt das? Was weißt Du darüber? Gib schnell Antwort!
Ich liebe Dich und denk an Dich
Deine I
Seltsam! dachte ich, wie kommt sie auf einmal darauf? Doch eine schnelle Antwort war erbeten. Ich klickte auf Reply.
Grüß Dich, Rotschopf!
Bei uns im Norden ist alles beim Alten. Ich schreibe demnächst ausführlicher, hier erst mal die Antwort auf Deine Frage. Ja, in Moskau gibt es eine Christi-Erlöser-Kathedrale, wie sie korrekt heißt, die nach der Revolution gesprengt wurde und Ende voriges Jahrhundert wiedererrichtet. Da war tatsächlich kein Stein auf dem anderen geblieben – an ihrer Stelle befand sich lange Zeit ein Schwimmbad. Jetzt ist das Bassin wieder zugeschüttet und die Kathedrale neugebaut. Vom kulturellen Standpunkt aus ist dieser Vorgang zwiespältig zu bewerten: Auf einer Demonstration sah ich die Losung: »Wir fordern die Wiederherstellung des von der Kleptokratie barbarisch zerstörten Schwimmbads Moskwa!« Was mich betrifft, so habe ich weder das eine noch das andere Etablissement je besucht und daher keine eigene Meinung dazu.