Ein tosender Strom, ohne Liebe versieg ich …
Bereut hat es nie, wer immer bestieg mich!
An solch einem Text konnte man endlos herumfummeln – bei einem wahren Dichter währt dieser Prozess bekanntlich bis zu dem Moment, da ihm der Verleger das Manuskript unter der Feder wegzieht. In diesem Fall musste ich mir das selber antun und beschloss einen Punkt zu setzen.
Mit der Website nutten.ru hatte ich bis dahin noch nie gearbeitet. Das Verfahren, wie man seinen Text dort an den Mann brachte, unterschied sich nicht von anderen Anbietern der Branche, mit Ausnahme eines leidigen Punktes: Annonce und Fotos wurden getrennt berechnet. Den puren Text zu veröffentlichen kostete hundertfünfzig Dollar, für jedes Foto kamen zwanzig hinzu. Ich hatte drei Web-Money-Karten dabei, die zur Bezahlung akzeptiert wurden: zu hundert, zu fünfzig und zu zwanzig Dollar. Wahrscheinlich richteten sich die Preise überhaupt nach diesen Stufenwerten. Ich konnte also nur ein einziges Foto beigeben – oder hätte auf die Pawelezkaja fahren müssen, um neues Internetgeld zu beschaffen. Ich beschloss, mich mit einem Foto zu begnügen, um es gleich abschicken zu können, ich wollte, dass es schon morgen im Netz hing. Dann dauerte es aber doch seine Zeit – das richtige Foto auszuwählen, brauchte ich eine Stunde.
Die Wahl fiel mir deswegen so schwer, weil jede Variante die in Aussicht gestellten Dienste auf meiner Liste in ein anderes Licht rückte, Strapon und Fisting mit immer neuen Untertönen umwitterte. Zuletzt blieb ich bei einem alten Schwarzweißfoto hängen: vor einer Bücherwand, mit einem kleinen Band Chodassewitsch in Händen. Es war die Schwere Leier. Das Foto, aufgenommen in den vierziger Jahren, wirkte schön und geheimnisvoll – man meinte einen nostalgischen Abglanz des Silbernen Zeitalters darin zu sehen, was mit dem letzten Punkt der Liste trefflich korrespondierte. Gut, dass ich die kostbarsten meiner alten Negative und Daguerreotypien inzwischen digitalisiert hatte!
Nun benötigte ich nur noch einen Künstlernamen. Ich ergoogelte eine entsprechende Liste und wählte gleich einen von ganz oben: Adèle. Klang vornehm …
Das Foto war von guter Qualität, ein Viertel Megabyte groß. Ich klickte auf Send. Mein Lärvchen lächelte ergeben und fuhr durch die Kabel in die Wand, von da in die Telefonleitung, hüpfte durch das elektrische Rückgrat der Straße, verflocht sich mit anderen Namen und Gesichtern, die Gott weiß woher und wohin trieben, und brauste einer fernen Netzschleuse entgegen, auf ein schwach am Horizont sich abhebendes Gebirge aus blau-grauen Überseeservern zu.
Der erste Anrufer meldete sich am nächsten Morgen kurz nach elf.
Der Kunde nannte sich Pawel Iwanowitsch. Angesprungen war er auf die Zeile in meiner Annonce, wo von einer »Russischen Peitsche« die Rede war. Wie sich herausstellen sollte, besaß er selbst eine – nein, ihrer fünf: vier auf einem geschnitzten Spezial-Ständer und eine in einer Tennistasche.
So viel vorweg: Liebend gern würde ich alle Erwähnungen Pawel Iwanowitschs aus meinen Aufzeichnungen tilgen, doch ohne ihn bliebe der Bericht unvollständig. Er hat in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt, so wie ein ranziger Fußgängertunnel sie spielen kann, durch den die Heldin der Geschichte zufällig ans andere Ufer ihres Schicksals wechselt. Deshalb muss von ihm die Rede sein, und ich bitte um Nachsicht für alle unappetitlichen Details. Bei manchen Computerspielen gibt es einen Knopf Tx2, wenn man ihn drückt, läuft das Spiel mit doppelter Geschwindigkeit. Diesen Knopf drücke ich also jetzt einmal und versuche den Mann auf ein geringstmögliches Maß einzudampfen.
Diogenes Laertios muss es gewesen sein, der von einem Philosophen erzählte, welcher sich drei Jahre lang in Gleichmut übte, indem er jedem, der ihn beleidigte, ein Geldstück schenkte. Als diese Lehrzeit vorüber war, hörte der Philosoph mit den Geldgeschenken auf, doch die Fertigkeit blieb ihm erhalten: Einmal beleidigte ihn irgendein Flegel, und er, anstatt sich mit Fäusten auf ihn zu stürzen, lachte nur. »Das gibt's ja nicht!«, sagte er, »heute kriege ich umsonst, wofür ich drei Jahre lang teuer bezahlt habe!«
Als ich zum ersten Mal davon las, empfand ich Neid, in meinem Leben keine Gelegenheit zu einem solchen Praktikum gehabt zu haben. Als ich Pawel Iwanowitsch kennen gelernt hatte, wusste ich, dass das Praktikum angelaufen war.
Pawel Iwanowitsch war ein bejahrter Geisteswissenschaftler, der aussah wie eine breitgelaufene, behaarte rosa Kerze. Früher hatte er sich als Rechtsliberalen gesehen (der Sinn dieser komischen Wortverbindung war mir immer schleierhaft), dies aber nach den bekannten Ereignissen so bitter bereut, dass er sich für das Unglück des Vaterlands persönlich verantwortlich fühlte. Um seine Seele zu befrieden, musste er sich ein-, zweimal pro Monat vom Jungen Russland geißeln lassen – das er dem Elend preisgab, indem er ihm nahe legte, sein Brot mit dem Auspeitschen perverser alter Lüstlinge zu verdienen, statt einem ordentlichen Universitätsstudium nachzugehen. Daraus entstand ein Teufelskreis, über den ich mir womöglich ernsthaft Gedanken gemacht hätte, wäre der Mann nicht die ganze Séance über immerzu am Masturbieren gewesen. Das machte das ganze Geheimnis kaputt.
Hätte er sich als Junges Russland eine reale Sexarbeiterin von irgendwo aus der Ukraine gehalten, er wäre niemals mit fünfzig Dollar für die einstündige Séance davongekommen. Auspeitschen ist Schwerstarbeit, selbst in nur vorgespiegelter Form. Doch nicht allein des Geldes wegen suchte ich Pawel Iwanowitsch immer wieder auf, sondern weil er mich unglaublich in Rage brachte, richtige Wutanfälle rief er bei mir hervor. Ich musste all meinen Willen aufbringen, mich zu beherrschen. Wäre ich nach praktischen Erwägungen vorgegangen, hätte ich mich nach reicheren Sponsoren umgesehen. Doch Charakterschulung betreibt man am besten in schwierigen Lebensphasen, wenn man keinen Sinn darin erkennen mag. Gerade dann bringt es etwas.
Damit ich meine Rolle bei dem Ganzen auch richtig verstand, ließ Pawel Iwanowitsch mich über die Gründe für seine Bußfertigkeit nicht im Unklaren. Am liebsten hätte ich für dieses Wissen noch fünfzig Dollar pro Stunde Aufschlag erhoben und wartete auf einen günstigen Moment, um den Preis mit ihm auszuhandeln. Dieser Moment ließ auf sich warten, Pawel Iwanowitschs Bericht war ungewöhnlich lang. Immerhin schöpfte ich aus seinen Darlegungen eine Menge interessanter Informationen.
»Zwischen 1940 und 1946, mein Herzchen, sank das Gesamtproduktionsvolumen in Russland um fünfundzwanzig Prozent. Alle Gräuel dieses Krieges eingedenk. Im Zeitraum von 1990 bis 1999 sank es um mehr als die Hälfte. Gravierender als Dschingis Khan und Hitler zusammengenommen! Und das ist keine böse Verleumdung der Kommunisten, das hat Joseph E. Stiglitz geschrieben, Chefökonom der Weltbank, Nobelpreisträger. Haben Sie Globalization and its Discontents gelesen? Ein Buch zum Fürchten. Und was Amerika angeht – die brauchen überhaupt keine Atombombe, solange es die WTO und den IWF gibt …«
Ich begann zu vergessen, weshalb ich eigentlich in seiner Wohnung saß, nur die zwischen uns auf dem Tisch liegende Lederpeitsche erinnerte daran. Bald stellte sich heraus, dass Pawel Iwanowitschs Reue absolut war: Sie betraf nicht nur den ökonomischen Aspekt der russischen Reformen, sondern auch die kulturelle Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
»Wussten Sie schon«, fragte er, mir starr in die Augen sehend, »dass die CIA seinerzeit die Beatnik-Bewegung und die psychedelische Revolution finanziert hat? Ziel war es, der Jugend ein attraktives Bild des Westens vorzugaukeln. America has fun! – den Eindruck wollten sie erwecken. Und das klappte so gut, dass sie eine Zeit lang selbst daran geglaubt haben. Der Witz war, dass alle diese Kinder von LSD-Generälen, die KGB probierten und sich Mühe gaben, richtige Beatniks zu sein, in Wirklichkeit am Haken der CIA hingen, also genau die Sünde begingen, derer die Partei sie bezichtigte! Und dabei war das die Intelligenzija von morgen, das Nervensystem der Nation …«