Wenn Pawel Iwanowitsch von der Schuld der Intelligenz am Volke sprach, gebrauchte er immer zwei verschiedene Ausdrücke, die mir gleichbedeutend vorkamen: Intelligenzija und Intellektuelle. Einmal konnte ich nicht an mich halten, ihn nach dem Unterschied zu fragen.
»Der ist gravierend«, erwiderte er. »Ich könnte ihn am besten allegorisch erklären. Sie verstehen, was das ist?«
Ich nickte gnädig.
»Es gab eine Zeit, Sie waren damals noch ein kleines Kind, da lebten in dieser Stadt hunderttausend Menschen, die ihr Gehalt dafür bekamen, dass sie einem abscheulichen roten Drachen den Hintern küssten. An den Drachen können Sie sich sicherlich nicht mehr erinnern …«
Ich schüttelte den Kopf. Irgendwann in jungen Jahren hatte ich einmal einen roten Drachen zu Gesicht bekommen, aber wie der ausgesehen hatte, wusste ich nicht mehr – nur an meine Angst vor ihm erinnerte ich mich noch. Ihn konnte Pawel Iwanowitsch schwerlich meinen.
»Natürlich hassten die Hunderttausend den Drachen von Herzen und träumten davon, dass der grüne Frosch, der gegen den roten Drachen Krieg führte, eines Tages die Herrschaft übernehmen würde. Am Ende haben sie mit dem Frosch gemeinsame Sache gemacht und den Drachen mit einem von der CIA bereitgestellten Lippenstift vergiftet, worauf ein neues Leben begann.«
»Und was hat die Intelligenzija damit…«
»Warten Sie's ab!«, sagte er, die Hand hebend. »Zunächst waren alle in dem Glauben, sie hätten unter dem Frosch genau dasselbe zu tun wie vorher, nur fürs zehnfache Gehalt. Doch dann stellte sich heraus, dass statt der hunderttausend Küsser nur noch ganze drei gebraucht wurden, um dem Frosch rund um die Uhr professionell einen zu blasen – einen Achtstundentag für jeden. Und wer von den Hunderttausend zu den dreien gehören würde, das sollte eine offene und faire Ausschreibung klären, wo man nicht nur hohe professionelle Qualitäten unter Beweis zu stellen hatte, sondern auch die Fähigkeit, während der Arbeit ein optimistisches Lächeln im Mundwinkel zu tragen …«
»Ich glaube, ich hab den Faden verloren …«
»Der Faden ist der, dass man die Hunderttausend als Intelligenzija bezeichnete, und die drei dürfen sich nun Intellektuelle nennen.«
Ich habe eine Marotte, die schwer zu erklären ist: Es widert mich an, wenn jemand in meiner Gegenwart vom Blasen spricht, sofern es nicht unmittelbar den Job betrifft. Keine Ahnung, warum das so ist, aber es macht mich rasend. Zudem spielte Pawel Iwanowitschs Vergleich in meinen Augen so dreist auf meine berufliche Tätigkeit an, dass ich glatt vergaß, nach dem Aufpreis zu fragen.
»Handelt Ihre Allegorie deswegen vom Blasen, damit ich es besser verstehe? Um mir und meiner Lebenserfahrung Rechnung zu tragen?«
»Wie käme ich dazu, Herzchen!«, sagte er verächtlich. »Ich ziehe diese Termini zur Erläuterung heran, um mir selbst Klarheit zu verschaffen, worum es geht. Das hat nichts mit Ihrer Lebenserfahrung zu tun, sondern mit meiner …«
Ein anderes Mal nahm er während der Züchtigung eine Zeitschrift zur Hand und fing an zu lesen. Was für sich genommen schon eine Kränkung war. Als er dann auch noch mit dem Finger auf einen Artikel tippte und »Soll doch das Maul halten, der Hund!« brummte, ging mir die Galle über, und ich stoppte die Prozedur – das heißt, ich suggerierte ihm eine Pause.
»Was ist denn?« Er schaute verwundert auf.
»Ich frage mich, ob wir hier beim Flagellieren sind oder in einer Lesestube?«
»Pardon, Herzchen«, sagte er, »aber dieses Interview hier empört mich. Das ist doch wirklich die Höhe!«
Er schnippte mit dem Finger auf das Journal.
»Ich habe ja nichts gegen Krimis, aber wenn Krimischreiber einem erklären wollen, wie Russland umzuorganisieren wäre, da geht mir der Hut hoch!«
»Wieso denn?«
»Es wäre dasselbe, als würde die Minderjährige, die von einem Fernfahrer mitgenommen worden ist, damit sie ihm einen bläst, plötzlich den Kopf von ihrem Arbeitsplatz heben und Anweisungen erteilen, wie man einen Vergaser bei Frost zu reinigen hat.«
Anscheinend merkte Pawel Iwanowitsch nicht mal, wie nahe er mir und meinem Gewerbe damit trat. Doch gelang es mir, die anschwellende Wut zu bemerken, bevor sie mich übermannte, wodurch sich in meinem Gemüt sogleich heitere Gelassenheit breitmachte.
»Was ist denn dabei?«, fragte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Vielleicht hat sie schon so viele Fernfahrer bedient, dass sie über alle Feinheiten im Bilde ist und tatsächlich einen Vortrag darüber halten könnte, wie man einen Vergaser reinigt.«
»Solche Fernfahrer können mir leidtun, Herzchen, die einen sprechenden Blasebalg als Ratgeber nötig haben. Die kommen nicht weit.«
Einen sprechenden Blasebalg, soso. Was bildete sich dieser verdammt-… Erneut spürte ich die Wut in mir hochsteigen – früh genug, um sie am Ausbruch zu hindern.
Das war großartig. Als würde man bei Sturm aufs Surfbrett springen und damit auf den Wellenkämmen destruktiver Emotionen dahinjagen, die einem doch nichts anhaben können! Wäre das gemeinhin so, dachte ich, wie viele Menschen könnten noch am Leben sein … Pawel Iwanowitsch in der Sache zu widersprechen, versuchte ich gar nicht erst. Wir Werfüchse auf den überweltlichen Wegen des Dao sollten zu diesen Dingen besser keine eigene Meinung haben. Fest stand nur: Pawel Iwanowitsch war als Sparringspartner für den Geist Gold wert.
Leider merkte ich zu spät, dass dies doch eine Überforderung für mich war. Das erste Mal, als ich die Kontrolle über mich verlor, ging es noch ohne Körperverletzung ab. Ein Satz, den er über Nabokov äußerte, ließ mich ausrasten. (Nicht zu reden davon, dass er die Xerokopie eines Aufsatzes auf dem Tisch liegen hatte, der den Titel Ein Friseur erscheint den Kellnern: Das Phänomen Nabokov in der amerikanischen Kultur trug.)
Ich liebte Nabokov seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als ich über hochgestellte Kundschaft vom NKWD seine Pariser Texte in die Hand bekommen hatte. Ach, welch ein frischer Wind mich von diesen Manuskriptseiten anwehte, in jener düsteren Stadt zur Stalinzeit! Eine Stelle, entsinne ich mich, gefiel mir ganz besonders, sie stand im Pariser Poem, das ich nach dem Krieg kennen lernte:
Wenn mein Leben (ein Schaustück im Jetzt und Hier,
alter Hut zwar, gleichwohl singulär,
insofern es in neuer Besetzung spielt)
ein gemusterter Teppich war…
Wenn den Teppich ich neu zu verlegen hätt,
ich verlegte ihn peinlich korrekt:
dass das flüchtige Muster der Gegenwart
mit dem klaren von einst sich deckt.
Da hatte Vladimir uns Werfüchse gemeint! Genauso ist es: Wir wohnen einer endlosen Theateraufführung bei, wo eitle Mimen sich produzieren, die meinen, sie wären die Ersten, die das auf die Bretter bringen. Unglaublich schnell sind sie abgetreten, und an ihre Stelle tritt ein neues Aufgebot, das dieselben Rollen mit demselben Pathos zu spielen anhebt.
Die Kulissen sind freilich jedes Mal neu – etwas zu neu sogar. Doch das Stück wird schon seit langem nicht mehr geändert. Und da wir uns nun einmal an glänzendere Zeiten erinnern können, nagt in uns die Sehnsucht nach der verlorenen Schönheit, dem verlorenen Sinn. Kurzum, diese Zeilen brachten ganz verschiedene Saiten in mir zum Klingen … Der Teppich aus dem Pariser Poem kam übrigens auch in Humbert Humberts Gedicht wieder aufs Tapet: