Wohin fliegst du, Dolores Haze?
Von magischem Teppich getragen?
Im Jaguar-Magen des Cabriolets?
Ach, wo parken dein Herz und dein Wagen?
Den Parkplatz kenne ich nicht, aber ich weiß, welcher Teppich. Er wurde in Paris gewebt, anno achtunddreißig, an einem Sommertag unter weißen Haufenwolken, die reglos am lasurblauen Himmel standen, und gelangte eingerollt bis nach Amerika … Die ganze Scheußlichkeit des Zweiten Weltkriegs war nötig, die ganze Monstrosität des von ihm diktierten Wahlausgangs, damit er in Humberts Empfangszimmer an die Wand kam. Und hier dieser Geisteswissenschaftler liegt da und schwätzt.
»Das Glück, mein Liebes, ist auch so eine Widersprüchlichkeit. Dostojewski hat die Frage gestellt, ob sich ein Glück denken lässt, das mit auch nur einer Kinderträne bezahlt ist. Während Nabokov umgekehrt daran zweifelt, ob ohne diese ein Glück überhaupt vorstellbar wäre.«
Wie einer hier auf das Grab des großen Schriftstellers spuckte, das hielt ich nicht aus. Ich schmiss die Peitsche weg. Genauer gesagt, ich ließ die Trugbilder der Auspeitschung abreißen, nötigte Pawel Iwanowitsch darüber hinaus mit anzusehen, wie die Peitsche auf dem Fußboden aufschlug, und zwar so heftig, dass eine Schramme im Parkett zurückblieb. Die musste ich anschließend eigenhändig reinkratzen, während er duschen war. Ich meide den Streit mit Menschen, doch diesmal ließ ich mich gehen; dabei sprach ich so ernsthaft, als hätte ich einen anderen Werfuchs vor mir:
»Es kränkt mich, Nabokov und seinen Helden in einen Topf geworfen zu sehen. Dass man ihn womöglich den Paten der amerikanischen Pädophilie nennt. Eine von Grund auf falsche Sichtweise. Nicht dort verrät Nabokov etwas von sich, wo er die verbotenen Reize des Nymphchens beschreibt, merken Sie sich das. Was einer über Seiten hingehen lässt, das sind keine Selbstbekenntnisse, das ist Fiktion. Bekenntnisse finden sich dort, wo er in aller Knappheit, geradezu andeutungsweise, Humberts finanzielle Sicherheit erwähnt, die es ihm erlaubt, mit Lolita durch Amerika zu gondeln. Was einem am Herzen liegt, bringt man nur verstohlen zur Sprache …«
Ich besann mich und verstummte. Lolitas Geschichte nahm ich sehr ernst und persönlich. Dolores Haze war für mich das Symbol für die ewig junge und lautere Seele, Humbert hingegen – ein Vorstandsvorsitzender dieser Welt. Außerdem musste man nur in jener Gedichtzeile, die auf Lolitas Alter anspielte, dreizehn Jahre durch zwanzig Jahrhunderte ersetzen, und schon war ich gemeint. Eine Erwägung, die ich Pawel Iwanowitsch natürlich nicht mitteilte.
»Reden Sie nur weiter, ich bitte Sie«, sagte er verblüfft.
»Wovon der Autor geträumt hat, war ganz bestimmt kein amerikanischer Backfisch, es war ein bescheidenes Auskommen, das es ihm erlaubt hätte, irgendwo im Schweizerischen in aller Ruhe auf Schmetterlingsjagd zu gehen. An solch einem Traum kann ich nichts Anstößiges erkennen für einen russischen Adligen, der die ganze Vergeblichkeit von Großtaten im Leben erkannt hat. Und welches Thema er für geeignet hielt, dieses Auskommen zu ermöglichen, sagt weniger über die heimlichsten Gelüste seines Herzens als darüber, wie er über seine neuen Mitbürger dachte – und wie gleichgültig ihm war, was die von ihm hielten. Dass das Buch ein Meisterwerk wurde, ist auch erklärlich: Talent lässt sich nun einmal schlecht verhehlen …«
Noch während ich meine Tirade zu Ende brachte, schalt ich mich im Stillen für das Gesagte. Und dies aus gutem Grund.
Mein professionelles Image ist das Mädchen im Grenzalter, mit Unschuld im Blick. Solche Geschöpfe formulieren keine Schachtelsätze über das Werk von Schriftstellern aus dem vorigen Jahrhundert. Sie sprechen schlicht und geradlinig, und zumeist über das, was greifbar und sichtbar ist. Wohingegen ich …
»Meine Güte, du drehst ja richtig auf!«, murmelte Pawel Iwanowitsch erstaunt. »Mit funkelnden Äuglein … Wo hast du denn das alles aufgeschnappt?«
»Halt eben so«, sagte ich mit umwölkter Stimme, »ich hab mal einen Philologen gefistet, von daher …«
Im Stillen gelobte ich mir feierlich, nie wieder kulturelle Debatten mit ihm zu führen, ihn vielmehr nur noch zum eigentlichen Zweck zu gebrauchen, als Turngerät für das geistige Training. Doch es war schon zu spät.
Es ist fatal, sich in der modernen Gesellschaft von Instinkten leiten zu lassen, die man in früheren Zeiten erworben hat, noch dazu in einer völlig anders gearteten Kultur. Das ist, als hätte man seinen Kreiselkompass auf einen untergegangenen Planeten eingestellt: Welchen Kurs er vorgäbe, möchte man lieber nicht wissen.
Im alten China lebten hochherzige Menschen. Hätte ich damals einem Gelehrten gegenüber die Kenntnis des klassischen Kanons durchblicken lassen, er hätte mir zur Belohnung das Doppelte gezahlt, und wenn er sich dafür in Schulden hätte stürzen müssen; obendrein hätte er mir ein Dankschreiben in Versen mit Pflaumenzweig ins Haus gesandt. Vielleicht, dass ich aus alter Gewohnheit auf Ähnliches gefasst war, als ich mich mit Pawel Iwanowitsch in ein Gespräch über Nabokov einließ. Das Ergebnis sah allerdings anders aus.
Bei der nächsten Séance bat Pawel Iwanowitsch darum, das Honorar schuldig bleiben zu dürfen; er habe gerade einen neuen Kühlschrank gekauft. Er äußerte sein Anliegen im Ton eines Geheimbündlers und erprobten alten Wandergefährten durch geistiges Hochland. Ein Dichter hätte so sprechen können, der den Zunftbruder um ein Fläschchen Tinte anging. Ich brachte es nicht über mich, ihm die Bitte abzuschlagen.
Der neue Kühlschrank, der die Hälfte seiner Küche einnahm, glich dem Vorsprung eines Eisbergs, der die Bordwand durchschlagen und sich in den Schiffsraum hereingeschoben hat. Trotzdem war der Kapitän besoffen und guter Dinge. Etwas, das mir schon vor längerem aufgefallen ist: Nichts kann einen Vertreter der russischen geisteswissenschaftlichen lntelligenzija (ein Intellektueller mochte Pawel Iwanowitsch nicht sein) mehr erfreuen als der Erwerb eines neuen elektrischen Haushaltgerätes.
Betrunkene kann ich nicht leiden. Darum gab ich mich ein bisschen verdrießlich. Er führte es wohl darauf zurück, dass die Züchtigung auf Pump erfolgte, und drang nicht weiter in mich. Wir kamen wortlos zur Sache, wie ein eingespieltes estnisches Seglerteam: Er händigte mir die ausgefranste Peitsche aus, die er in einer Tennistasche mit Autogramm von Boris Becker aufbewahrte, zog sich aus, machte sich auf der Pritsche lang und schlug die neueste Nummer des Wirtschaftsmagazins Expert auf.
Langsam schwante mir, dass darin weder eine Geringschätzung meiner Kunst zum Ausdruck kam, noch die übermäßige Liebe zum gedruckten Wort. Offensichtlich paarte sich in seiner Seele die Bußfertigkeit gegenüber dem Jungen Russland mit noch ganz anderen Vibrationen, von denen ich nichts wusste; nicht alle Geheimnisse seines Innenlebens hatte er mir enthüllt. Ich für mein Teil gab mir keine Mühe, tiefer dorthin vorzudringen, als das Geschäft es vorsah, und stellte daher auch keine Fragen. Alles lief wie gewohnt: Ich ließ die imaginäre Peitsche auf seinem Hintern niederklatschen und hing dabei meinen Gedanken nach, er brummelte etwas in seinen Bart, manchmal fing er zu stöhnen an, manchmal lachte er. Es war öde, ich kam mir vor wie eine Odaliske im orientalischen Harem, die mit gemessenem Fächerschwung die Fliegen vom Schmerbauch ihres Herrn wedelt. Da hörte ich ihn plötzlich etwas sagen.
»Nicht zu fassen. Wie kann ein Anwalt so einen Namen haben: Anton Drel2. Dass er daran nicht schon längst zugrunde gegangen ist… Bestimmt haben sie ihn in der Schule gehänselt deswegen … Leute mit solchen Namen wachsen mit einer psychischen Macke auf, unter Garantie. Alle Koslows3 zum Beispiel brauchen einen Psychotherapeuten, das sagt Ihnen jeder Experte.«
Natürlich hätte ich den Gesprächsfaden nicht aufnehmen dürfen – es gab keinen Grund, den geschäftlichen Rahmen der Situation zu sprengen. Namen sind für mich aber ein so wunder Punkt, dass ich mich wieder einmal nicht beherrschen konnte.