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»Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Heißen kann man sonst wie. Ich habe eine Freundin, die hat einen sehr unvorteilhaft klingenden Namen. So unvorteilhaft, dass Sie lachen würden, wenn ich ihn verriete. Man könnte ihn beinahe unflätig nennen. Sie selbst hingegen ist schön, klug und eine Seele von Mensch. Ein Name allein ist noch kein Urteil.«

»Könnte es sein, Süße, dass Sie Ihre Freundin nur nicht gut genug kennen? Wenn in ihrem Namen ein Unflat steckt, dann kriecht er im Leben unweigerlich hervor. Warten Sie es ab, sie wird sich noch entpuppen … Vom Namen hängt alles Weitere ab. Eine wissenschaftliche Hypothese besagt, der Name eines jeden Menschen sei ein suggestiver Urbefehl, der in extrem konzentrierter Form das gesamte Lebensszenario vorschreibe. Können Sie sich unter einem suggestiven Befehl etwas vorstellen? Unter Suggestion im Allgemeinen?«

»So in groben Zügen«, erwiderte ich und zog ihm in Gedanken besonders kräftig eins über.

»Uff… Folgt man dieser Sichtweise, so ist die begrenzte Anzahl von Namen darauf zurückzuführen, dass die Gesellschaft nur eine begrenze Anzahl Menschentypen benötigt. Einige wenige Typen Arbeits- und Kampfameisen, wenn man so will. Und die Psyche eines jeden Menschen wird von den assoziativsemantischen Feldern vorprogrammiert, die durch Vor- und Zuname aktiviert werden.«

»So ein Quatsch«, versetzte ich gereizt. »Nirgends auf der Welt finden Sie zwei Namensvettern, die einander gleichen.«

»Wie auch keine zwei gleichen Ameisen. Nichtsdestoweniger lassen sich Ameisen funktional klassifizieren … Nein, glauben Sie mir, ein Name ist nicht zu unterschätzen. Es gibt welche, die sind wie Zeitbomben.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen, aus dem Leben gegriffen. Am Institut für Archivwesen arbeitete ein Shakespeare-Forscher, der hieß Schitman. Er hatte promoviert zum Thema Ontologische und eigentumsrechtliche Aspekte von Sein oder nicht sein (sondern mein) oder etwas in der Art und beschloss nunmehr Englisch zu lernen, um seinen Nährvater endlich im Original zu lesen. Außerdem wollte er nach England fahren – London sehen und sterben, wie er sich ausdrückte. Er fing also an zu lernen. Und nach ein paar Lektionen kam er plötzlich drauf, dass Shit Scheiße bedeutet. Können Sie sich das vorstellen? Wäre er beispielsweise Chemielehrer gewesen – halb so schlimm! Aber bei einem Geisteswissenschaftler, wo sich alles um die Wörter dreht, wie schon Derrida bemerkte … Ein Shakespeareologe namens Schitman ist wie ein Goetheaner namens Schietmüller. Mit so einem Orden im Knopfloch kann man unmöglich dem Guten, Wahren und Schönen dienen. Schitman kam es bald schon so vor, als würde er im British Council schief angesehen … Der British Council hatte ganz andere Sorgen, die hatten die Steuerpolizei im Haus, aber Schitman bezog das alles auf sich. Sie wissen ja, meine Liebe, wenn einer sucht, womit er seine Paranoia füttern kann, dann findet er immer was. Lassen wir die traurigen Details beiseite: Einen Monat später war der Mann übergeschnappt.«

Das war der Moment, wo die Wut in mir zu schäumen anfing, ich unterstellte ihm instinktiv, dass er mich beleidigen wollte, obwohl es dafür gar keine rationalen Anzeichen gab. Aber Selbstbeherrschung ist das Wichtigste, das fiel mir auch jetzt wieder ein. Und ich beherrschte mich.

»Tatsächlich?«, fragte ich höflich nach.

»Jawohl. Im Irrenhaus sprach er mit niemandem, brüllte nur immer die ganze Klinik zusammen, entweder brüllte er: Same shit different day! oder: Same shite different night! Er hatte also nicht ganz umsonst Englisch gelernt – etwas war hängen geblieben. Zuletzt wurde dieser Schitman in einem Auto mit Armeenummernschild abtransportiert, eine geheimdienstliche Zuführung, nennen wir es so. Was aus ihm geworden ist, weiß Keiner, und wer es doch weiß, behält es für sich. Ende des Sommernachtstraums. Und da behaupten Sie, Kindchen, Namen würden keine Rolle spielen. Und was für eine! Wenn Ihre Freundin ein böses Wort im Namen hat, landet sie früher oder später in der Klapsmühle. Unweigerlich. Schitman hat übrigens noch Glück gehabt, dass der Geheimdienst ein Interesse an ihm hatte. Sie haben ja sicher schon davon gehört, was in Klapsmühlen hierzulande für Zustände herrschen. Da kriegt man für eine Zigarette einen geblasen …«

Das Training des Geistes mit Hilfe einer Reizperson gleicht einem Hasardspiel, bei dem alles auf eine Karte gesetzt wird. Der Gewinn pflegt sehr hoch zu sein. Doch wenn man kippelt und abstürzt, hat man alles verloren. Die Arbeit auf Pump hätte ich verkraftet, den Goetheaner Schietmüller und das dreckige Fluchen – wäre er nicht noch auf das Blasen für Zigaretten gekommen. Dem war ich nicht gewachsen.

»Kindchen!«, brüllte Pawel Iwanowitsch. »Was ist denn in dich gefahren? He, was tust du da! Du Biest! Hilfe! Polizei!!«

Der Ruf nach der Polizei brachte mich zur Besinnung. Doch es war zu spät: Pawel Iwanowitsch hatte drei Peitschenhiebe gefangen, für die sich selbst ein Mel Gibson nicht hätte schämen müssen. Auch wenn diese Hiebe rein hypnotisch waren – das Blut auf seinem Rücken war echt. Natürlich bereute ich, was ich getan hatte, aber das kommt ja immer eine Sekunde zu spät. Außerdem war ich im Grunde meines Herzens wieder listig gewesen: Voraussehend, dass mich gleich die Reue packen würde, geistig schon dabei, die Pose der reuigen Sünderin einzunehmen, wisperte ich noch ganz zuletzt, mit rachsüchtiger Wollust: »Da hast du eine vom Jungen Russland, du alter Bock!«

Blicke ich auf mein Leben zurück, so finde ich darin nicht wenige dunkle Punkte. Doch für diesen Moment empfinde ich eine besonders heftige Scham.

Viele Tempel in Asien erstaunen den Reisenden durch den Gegensatz zwischen der Kargheit der leeren Räume und der vielstufigen Pracht des Daches – mit geschwungenen Ecken, kostbaren geschnitzten Drachen und roten Dachziegeln. Die Symbolik, die dahintersteht, leuchtet ein: Schätze anhäufen soll man nicht auf Erden, sondern im Himmel. Die Mauern stehen für die irdische Welt, das Dach für die, die danach kommt. Betrachtet man das Gemäuer, sieht man eine Hütte. Betrachtet man das Dach, so ist es ein Palast.

Der Kontrast zwischen Pawel Iwanowitsch und dem, was man in Russland heutzutage als »Dach« bezeichnet, kam mir ebenso eindrucksvoll vor – und das ohne allen theologischen Hintergrund. Pawel Iwanowitsch war nur ein kleiner geisteswissenschaftlicher Dämon. Hingegen sein Dach … Aber der Reihe nach.

Das Telefon klingelte zwei Tage nach der Exekution, morgens um halb neun, reichlich früh selbst für einen Kunden mit Neigungen. Die Nummer im Display sagte mir gar nichts. Ich war seit vier Uhr in der Frühe auf den Beinen und hatte bis zu diesem Moment schon eine Menge erledigt, trotzdem reagierte ich – man konnte nie wissen – mit verschlafener Stimme: »Halloo …«

»Adèle?«, tönte es munter zurück. »Ich rufe wegen deiner Annonce an.«

Ich hatte die Annonce schon wieder von der Website genommen, doch jemand konnte sie sich für den Tag X heruntergeladen haben, viele Kunden verfahren so.

»Könnten Sie kleine Mädchen um die Zeit noch bisschen schlafen lassen?«

»Wieso denn schlafen? Warm anziehen und Bewegung, hopp-hopp!«

»Ich bin noch nicht wach.«

»Expresszuschlag, dreifacher Preis. Wenn du in einer Stunde hier bist.«

Dreifacher Preis? Ich hörte auf, mich zu zieren, und notierte die Adresse. Eine meiner lateinamerikanischen Schwestern erzählte gern die Geschichte, wie der panamaische General Noriega mit Vorliebe die ganze Nacht hindurch Whiskey soff und dann gegen Morgen eine der sechs Frauen, die er ständig bei sich hielt, zum Sex rief – meine Schwester wusste das deswegen so genau, weil sie eine davon war. Aber gut, das ging vielleicht in Panama: Kokain, heißes Blut und so weiter. Für die hiesigen Breiten war es ein eher obskurer Zug, so früh am Tag spitz zu sein. Irgendwie riskant kam mir die Sache aber nicht vor.