»Ach du Scheiße«, murmelte ich. »Subbotnik oder was?«
»He-he«, fuhr er beleidigt auf, »mach mal einen Unterschied zwischen dem FSB und den Bullen. Du kriegst dein Geld.«
»Wie viel seid ihr?«, fragte ich mit müder Stimme.
»Ich bin alleine … Oder sagen wir: zu zweit, maximal.«
»Und wer ist der andere?«
»Das wirst du gleich sehen. Keine Angst, ich führ dich nicht hinters Licht.«
Er zog den Tischkasten auf und entnahm ihm eine Schachtel mit allerlei Medizinkram: Döschen, Watte, eine Packung Einwegspritzen. Eine Spritze war schon vorbereitet – wegen der grellroten Kappe auf der Nadel glich sie einer Zigarette, an der jemand so heftig gezogen hat, dass die Glut über die ganze Länge hineingefahren ist.
»Fixen kommt nicht in Frage«, sagte ich. »Nicht mal fürs Fünffache.«
»Dummchen«, sagte er und schien erheitert, »für dich ist das bestimmt nicht gedacht.«
»Und Vorkasse. Wer weiß, wie Sie in einer halben Stunde drauf sind.«
Er warf mir ein Kuvert zu. »Da hast du!«
Von Repräsentanten der russischen Mittelklasse bekommt man die Dollars oft im Briefkuvert ausgehändigt – so wie sie sie zu kriegen gewöhnt sind. Das macht Eindruck. Man kommt sich vor wie auf einen sozialen Aussichtsturm gehoben, von dem aus man Einblick ins geheime Räderwerk hat, den Wirtschaftsmechanismus des Landes … Ich öffnete das Kuvert und zählte nach. Es war der versprochene dreifache Tarif, plus fünfzig Dollar. Man konnte sagen, das Niveau vom Hotel National. Solche Kunden musste man sich warm halten – oder zumindest den Anschein erwecken. Ich setzte ein charmantes Lächeln auf.
»Also. Egal ob Sühne oder Buße. Wo ist noch mal das Bad?«
»Gedulde dich. Da kannst du noch früh genug hin.
»Ich …«
»Du sollst sitzen bleiben!« Er ging daran, seinen Ärmel aufzukrempeln.
»Sie sagten, es käme noch wer dazu. Wo ist er denn?«
»Wenn ich mich gespritzt habe, kommt er.«
Er zog ein Gummiband um den entblößten Bizeps, machte ein paarmal die Faust auf und zu.
»Was haben wir denn Feines in der Spritze?«, erkundigte ich mich missmutig.
Ich musste wissen, worauf ich mich gefasst zu machen hatte.
»Den Kitty-Ket-Express.«
»Wie??«
»Ein ganz spezielles K, mit anderen Worten«, erläuterte er.
Jetzt verstand ich, was in der Spritze war: Ketamin, lateinisch Calypsol, eins der härtesten Psychedelika; wer sich das in die Vene spritzte, musste Psychopath oder Selbstmörder sein.
»Doch nicht etwa intravenös?«, fragte ich ungläubig.
Er nickte. Ich bekam es mit der Angst. Schon die Ketamin-Junkies, die sich das Zeug intramuskulär gaben, waren gar nicht mein Fall. Nach diesen Spritzen gingen düstere Dinge mit ihnen vor. Sie taten wie Friedhofstrolle, auf denen der ewige Fluch lastet – wie aus der Armee der Toten in Herr der Ringe, letzter Teil. Und der hier wollte es sich in die Vene setzen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass man das tat. Oder anders herum: Ich wusste, dass normale Menschen es nicht taten. Eine zweite Leiche binnen weniger als vier Wochen, das hätte mir gerade noch gefehlt. Höchste Zeit zum Rückzug.
»Hier haben Sie Ihr Geld wieder«, sagte ich. »Besser, unsere Wege trennen sich.«
»Was soll das denn jetzt?«
»Ihnen macht es nichts aus, wenn Sie tot sind. Aber mich zerren sie vor Gericht. Ich gehe.«
»Hab ich nicht gesagt, du sollst sitzen bleiben!«, fauchte Michalytsch.
Er stand auf, ging zur Tür, drehte den Schlüssel herum und steckte ihn ein.
»Wenn du noch mal zuckst, wirst du's bereuen. Kapiert?«
Ich nickte. Er kehrte zum Tisch zurück, setzte sich und entnahm seiner Medizinschachtel ein seltsames Gerät, es sah aus wie ein Locher in sowjetischer Formgestaltung. Bestehend aus zwei halbrunden Scheiben, die durch eine simple Mechanik zusammenhingen. An der unteren Scheibe saß ein großer Saugnapf, die obere hatte eine sternförmige Ausstanzung und eine Inventarnummer, wie eine Dienstpistole. Michalytsch führte die beiden Scheiben zusammen, leckte den Saugnapf gründlich feucht und presste sich die Vorrichtung gegen den Unterarm. Dann setzte er die Spritze in den Stern, führte die Nadel behutsam in die Vene ein, kontrollierte – die Flüssigkeit im Kolben färbte sich dunkelrot. Dann berührte er den kleinen Hebel an der seltsamen Vorrichtung, und selbige fing laut zu ticken an. Michalytsch legte das Gesicht in konzentrierte Falten wie kurz vor einem Sprung ins Wasser, rückte die Füße auseinander, damit sie fester auf dem Boden standen, und drückte den Kolben bis zum Anschlag in den Zylinder.
Sein im Stuhl sitzender Körper erschlaffte beinahe sogleich. Ich weiß nicht warum, aber mir schoss der Gedanke durch den Kopf: So sind die Nazibonzen im Dritten Reich aus dem Leben gegangen. Unruhig horchte ich auf das Ticken – es hörte sich an wie eine Bombe, die gleich losgehen würde. Nach einigen Sekunden ertönte ein Schnappen, der Locher mitsamt der Spritze sprang vom Arm und fiel neben dem Stuhl zu Boden. In Michalytschs Armbeuge erschien ein winziger Blutstropfen. Kluge Erfindung!, dachte ich noch, da erwischte es mich.
An dieser Stelle muss ich eines klarstellen. Ich kann keine Gedanken lesen. Keiner kann das, denn bei niemandem im Kopf gibt es so etwas wie gedruckten Text. Und jenes Gedankenflimmern, das den Geist pausenlos durchzieht, dürfte keiner zu erfassen in der Lage sein, nicht einmal an sich selbst. Fremde Gedanken lesen zu wollen wäre das Gleiche, als suchte ein Blinder mit dem Krückstock nach ungelegten Eiern. Ich spreche nicht von der technischen Schwierigkeit sondern vom praktischen Wert eines solchen Tuns.
Dank ihres Schweifes können Werfüchse jedoch mit dem fremden Bewusstsein in eigenartige Resonanz geraten – zumal dann, wenn dieses fremde Bewusstsein überraschende Haken schlägt. Es erinnert an die Reaktion des peripheren Sehens auf plötzliche Bewegungen im halbdunklen Raum. Wir erleben eine kurzzeitige Halluzination, das ist wie ein abstrakter Computerclip. Einen Nutzen bringt dieser Kontakt nicht, und die meiste Zeit filtert unser Verstand diesen Effekt einfach aus – sonst könnten wir zum Beispiel unmöglich U-Bahn fahren. Meist ist er sowieso nur schwach ausgeprägt, verstärkt sich allerdings, wenn die Menschen unter Drogeneinfluss stehen, schon deshalb sind uns Junkies so zuwider.
Bei intravenöser Injektion von Ketamin gehen mit Obersten des russischen Geheimdienstes jedenfalls seltsame Dinge vor. Der Kitty-Ket-Express war keine bloße Metapher, sondern eine ziemlich realitätsnahe Bezeichnung: Obwohl der Körper schlaff wie eine Leiche im Stuhl hing, war das Bewusstsein unterwegs, fuhr durch einen orangenen Tunnel, angefüllt mit geisterhaften Formen, denen es geschickt auswich. Ständig gab es Abzweigungen, Michalytsch konnte sich aussuchen, wo er langfuhr. Es war das reinste Bobrennen: Michalytsch steuerte die eingebildete Jagd mit winzigsten, dem Auge verborgenen Drehungen seiner Handflächen und Fußsohlen, man konnte es gar nicht Drehungen nennen, es waren mikroskopische Kontraktionen der entsprechenden Muskeln.
Soweit ich verstand, waren diese orangenen Tunnel nicht bloß räumliche Gebilde, sie waren Wille und Information zugleich. Die ganze Welt verwandelte sich in ein riesiges selbstfahrendes Programm, so wie bei einem Computer, nur dass Hardware und Software hier nicht zu trennen waren. Michalytsch selbst war Teil dieses Programms, konnte sich jedoch gegenüber den anderen Baugruppen frei bewegen. Und sein Fokus fuhr rückwärts durch das Programm, auf den Anfang zu, die Klappe, hinter der etwas Schreckliches lauerte. Michalytsch war in den letzten Tunnel eingefahren, näherte sich nun der Klappe, stieß sie entschlossen auf. Und das Schreckliche, das dahinter war, brach aus und strebte nach oben – ans Tageslicht, ins Zimmer herein.