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Ich beobachtete Michalytsch. Es kam Leben in ihn, doch auf seltsame, ungute Weise. Seine Mundwinkel zuckten, aus ihnen trat Speichel hervor oder irgendwelcher anderer Schaum, der Kehle entstieg ein knurrender Ton. Dieses Knurren wurde lauter, Michalytschs Körper fing an zu zucken, krümmte sich, und ich spürte, dass diese mysteriöse, furchtbare Kraft vom Grund seiner Seele im nächsten Augenblick hervorbrechen würde. Zu zaudern blieb keine Zeit – ich packte die Champagnerflasche und hieb sie ihm mit Schwung über den Schädel.

Äußerlich hatte dies keine nennenswerten Folgen – Michalytsch war wieder im Sessel zusammengesunken, die Flasche nicht einmal zu Bruch gegangen. In seinen inneren Dimensionen jedoch, mit denen ich nach wie vor in Kontakt stand, tat sich Erstaunliches. Der Klumpen destruktiver Kraft, der sich aus seinen Tiefen befreit hatte, geriet außer Kontrolle und schlug in die subtilen Anordnungen von Denkformen ein, die den Tunnel, in dem er gerade war, füllten. Sterne pulsierten, Feuerstreifen blitzten auf, die auf den Horizont zuliefen wie die Markierung einer Endlos-Startpiste. Das war überwältigend schön und ließ mich an einen in den sechziger Jahren gesehenen Katastrophenbericht denken, in dem ein Trimaran-Schnellboot vom Wasser abhob, ein langsames, wie versonnenes Looping vollführte, wieder auf die Oberfläche des Sees aufprallte und zerschellte. Hier geschah annähernd das Gleiche, nur dass nicht das Boot, sondern der See zu Bruch ging: Die geisterhaften Konstruktionen, mit denen der orangene Tunnel angefüllt war, zerfielen, zerstoben mit melodiösem Klang, alles verebbte, schrumpfte und verschwand. Worauf der ganze Kosmos aus orangenen Tunneln erlosch und außer Sicht geriet, so als hätte einer den Strom für die Beleuchtung abgedreht. Übrig blieb ein schlaffer Mann im Sessel und dieses melodiöse Klingen, das immer von neuem einsetzte – es dauerte, bis ich begriff, dass es das Telefon war.

Ich nahm ab.

»Michalytsch?«, fragte eine männliche Stimme.

»Michalytsch kann jetzt nicht«, sagte ich. »Er ist sehr beschäf-

»Wer spricht da?«

Eine ausreichend kurze und klare Antwort auf diese Frage fiel mir nicht ein. Nach ein paar Sekunden Schweigen wurde am anderen Ende der Leitung aufgelegt.

Den KGB umzubenennen – das hätte man sich überlegen sollen, Eine solche Marke in den Wind zu schreiben! Den KGB kannte man auf der ganzen Welt. Wohingegen heute längst nicht jeder Ausländer Bescheid weiß, was FSB bedeutet. Eine amerikanische Lesbe, die mich für ein Weekend engagiert hatte, brachte FSB und FSD immerzu durcheinander. FSD sind female sexual dysfunctions, eine Krankheit, die die Pharmakonzerne sich ausgedacht haben, um ein weibliches Pendant zu Viagra auf den Markt zu drücken. Sexuelle Dysfunktionen sind natürlich ein Bluff. Bei der weiblichen Sexualität spielen weniger physische Aspekte eine Rolle als das Drumherum: Kerzen, Champagner, passende Worte. Und wenn man ganz ehrlich sein möchte, ist materieller Wohlstand immer noch die wichtigste Voraussetzung für einen modernen weiblichen Orgasmus. Da helfen freilich keine Pillen – it's the economy, stupid. Aber ich schweife ah.

Auch wenn der KGB seinen Namen geändert hatte – die Kader waren die alten. Hart im Nehmen! Ein normaler Mensch hätte nach so einem Hieb mit der Flasche für längere Zeit den Löffel abgegeben. Michalytsch kam relativ schnell wieder zu sich. Vielleicht hing es damit zusammen, dass er den Schlag in einem veränderten Bewusstseinszustand abbekommen hatte – das führt zu einer Transformation der Physis, wie jeder Alkoholiker bestätigen kann.

Dass er bei Bewusstsein war, merkte ich, als ich ihm den Zimmerschlüssel aus der Hosentasche ziehen wollte. Über ihn gebeugt, begegnete ich seinem Blick unter den halbgeschlossenen Lidern hervor. Ich sprang sofort zurück. Was nach der Injektion mit ihm vorgegangen war, flößte mir Furcht ein – dergleichen war mir noch nie begegnet. Ich mochte kein Risiko eingehen.

»Telefon«, flüsterte Michalytsch.

»Was ist mit dem Telefon?«

»Wer… wer …«

»Wer angerufen hat?«, erriet ich seine Frage. »Weiß ich nicht. Irgendein Mann.«

Er stöhnte auf. Es war phänomenal. Einen normalen Menschen bewegten nach so einem Schlag auf den Kopf allenfalls die großen und ewigen Fragen. Der hier sorgte sich um irgendwelche Anrufe. Aus solchen Männern müsst' Nägel man schmieden, dann lebten die Menschen in Russland zufrieden, wie Majakowski schrieb (letztere Zeile hat er später umgedichtet zu: … es wären die härtesten Nägel hienieden, aber in der Rohfassung stand es genau wie oben gesagt, ich habe es mit eigenen Augen gesehen).

»Geben Sie mir den Schlüssel, ich muss los«, sagte ich.

»Warten«, ächzte Michalytsch. »Reden …«

»Mit Junkies rede ich nicht.«

»Geht dich … nichts an.«

Er sprach mühsam, mit großen Pausen, als wäre jeder Satz ein hoher Berg, von dem der Sturm ihn immer wieder herunterblies.

»Klar«, sagte ich betont beleidigt, »das geht mich nichts an. Dasselbe hat Ljusja auch zu hören gekriegt: Geht dich nichts an. Aber wie der Kunde bei ihr am japanischen Kirschzweig verreckt ist, da hatte sie ein Ermittlungsverfahren am Hals. Ihr Anwalt sagt: Bauchfellentzündung, Unglücksfall. Der Staatsanwalt dagegen hängt ihr einen Darmdurchbruch an, fahrlässige Tötung. Und dafür muss man noch drei Hunderter vorbeitragen, damit es fahrlässig ist, sonst kann es leicht in die Vollen gehen. Schlüssel her, oder ich verpass Ihnen noch eine. Scheißegal, dass Sie beim FSB sind … Mir passiert schon nichts, das ist Notwehr.«

Bei diesen Worten griff ich wieder nach der Flasche.

Er stieß einen gräulichen Laut aus – wie wenn tief im Weiher der Wassergeist lacht. Dann versuchte er, etwas zu sagen, doch heraus kam nur: »Blb-bleib-blb…«

»Hören Sie, ich bitte Sie zum letzten Mal im Guten«, sagte ich, »Geben Sie den Schlüssel raus!«

»Fotze.« Das Wort kam überraschend deutlich.

Was diese Offiziere doch für Flegel sind. Haben einfach keine Manieren, wissen nicht, wie man mit Mädchen redet. Ich hob die Flasche zum Schlag, da ging hinter meinem Rücken die Tür auf.

Auf der Schwelle stand ein großer junger Mann im dunklen Regenmantel mit hochgeschlagenem Kragen. Unrasiert, finster und äußerst gut aussehend – das registrierte ich ohne jede innere Beteiligung, mit kaltem Künstlerblick.

Etwas abträglich war nur die herrisch-arrogante Mundfalte. Sie stieß nicht ab, sie hielt auf Distanz. Aber auch mit ihr sah er wirklich sehr, sehr attraktiv aus. Ein bisschen ähnelte er dem Zaren Alexander I. als junger Mann – der hatte in den ersten Jahren nach der Thronbesteigung auch diesen Wolfsblick.

Diese Physiognomie faszinierte mich. Ich weiß nicht, wie erklären. Es sah aus, als lebte dieser Mann seit vielen Jahren mit Zahnschmerzen und gab nicht mehr darauf Acht, obwohl die Schmerzen ihn tagtäglich quälten. Und dann dieser Blick: Die graugelben Augen brannten sich der fremden Netzhaut ein und schauten einem von da noch sekundenlang in die Seele. Das Entscheidende aber war, so schien mir, dass dieses Gesicht der Vergangenheit angehörte. Solche hatte man in früheren Zeiten viel um sich: als die Menschen noch an die Liebe glaubten und an Gott. Später starb dieser Menschentyp beinahe vollständig aus.

Eine Weile schauten wir einander in die Augen.

»Ich wollte ihn gerade mit Champagner kurieren«, gab ich kund und stellte die Flasche auf den Tisch zurück.

Der Gast ließ seinen Blick zu Michalytsch wandern.

»Sag bloß, du hast deine Tochter angeschleppt?«, fragte er.

»Nääh …«, röchelte Michalytsch von seinem Stuhl und schaffte es sogar, mit der Hand zu wedeln, die Anwesenheit des Gastes flößte ihm augenscheinlich neuen Mut ein. »Ne … ne Nutte …«

»Ah!«, machte der Gast und sah wieder auf mich. »Ist das die, die … unserem Fachberater zu nahe getreten ist?«