Auf die Art könnte man getrost alle Buchstaben des Alphabets übereinander legen und auf einem kleinen Stein unterbringen, erklärte ich, das käme billig, nur dass man so nicht wisse, welches der Anfangsbuchstabe sei … Schon am übernächsten Tag wurde mir die neue, aus einem länglichen Opal gefertigte Variante präsentiert. AH., so also nun das närrische Orakel! wie der Mäzen in einem Gedicht, das der Gabe beigelegt war, fein doppelsinnig formulierte.
Da sieht man, was damals in Russland noch für Leute lebten! Allerdings vermute ich, dass er das Gedicht nicht selbst geschrieben, sondern bei dem Dichter Kusmin in Auftrag gegeben hat, denn nach der Revolution tauchten mehrfach irgendwelche bekoksten Tscheka-Tucken bei mir auf und wollten Brillanten haben. Bald darauf wurden in meiner Wohnung an der Italjanskaja Schlosser und Wäscherinnen einquartiert, und mir persönlich nahmen sie die letzte Bastion meiner Selbstachtung, das »i«. Darum mochte ich die Kommunisten von Anfang an nicht leiden, schon damals nicht, als viele helle Köpfe noch an sie glaubten.
In Wirklichkeit ist mein Name sehr schön und hat mit dem, was das Russische ihm an Bedeutung anhängen will, nicht das Geringste zu schaffen. A Huli heißt auf Chinesisch Fuchs A, Analog zu westlichen Sprachen ließe sich A als mein Vorname ansehen und Huli als Familienname. Was kann ich zu meiner Rechtfertigung anführen? Ich wurde so getauft, als es dieses Wort im Russischen noch nicht gab – wie das Russische überhaupt.
Wer hätte damals ahnen können, dass mein ehrenwerter Familienname irgendwann zum Schimpfwort werden würde? (Mit dem Vornamen hat man es übrigens auch nicht viel leichter, selbst wenn er nur aus einem Buchstaben besteht. Man geht die Straße lang, sieht plötzlich ein großes fettes A an einem Haus mit vielen entnervten Menschen davor und denkt: nanu?… Ach so. Die Alpha-Bank.) Aber hat nicht schon Ludwig Wittgenstein gesagt, dass die Welt aus nichts als Namen besteht? Also kein Grund zum Übelnehmen.
Wir Werfüchse sind glückliche Geschöpfe, weil wir ein kurzes Gedächtnis haben. Immer nur die letzten zehn, zwanzig Jahre haben wir in klarer Erinnerung; alles, was davor liegt, ruht in dem großen schwarzen Nichts, von dem schon die Rede war. Es geht aber nicht ganz verloren. Die Vergangenheit ist für uns wie ein lichtloses Depot, aus dem wir bei Begehr jede Erinnerung hervorkramen können; hierfür bedarf es allerdings einer besonderen Willensanstrengung, die ziemlich quälend sein kann. Diese Fähigkeit macht uns als Gesprächspartner interessant. Zu beinahe jedem Thema können wir parlieren; zudem beherrschen wir die wichtigsten Weltsprachen – Zeit genug zum Lernen hatten wir ja. Doch kratzen wir die Narben unseres Gedächtnisses nicht öfter auf als unbedingt nötig, der banale Strom von Gedanken im Alltag unterscheidet sich praktisch nicht von dem normaler Menschen. Selbiges trifft auf unsere gewählte Identität zu – sie macht den Werfuchs vom schwanzlosen Affen ununterscheidbar.
Viele Leute begreifen nicht, wie das sein kann. Ich versuche eine Erklärung. In allen Kulturen ist es üblich, bestimmte Äußerlichkeiten mit bestimmten Charakterzügen in Verbindung zu bringen. Die schöne Prinzessin ist herzensgut und sensibel; eine böse Hexe ist hässlich, mit einer großen Warze auf der Nase. Es gibt auch subtilere Verknüpfungen, die nicht so leicht zu beschreiben sind – die hohe Kunst der Porträtmalerei füllt diese Lücke. Im Laufe der Zeit ändern sich solche Zusammenhänge. Was in der einen Epoche als schön gilt, ruft in der nächsten Befremden hervor. Um es einfach zu sagen: Der Menschentyp, mit dem ein durchschnittlicher Zeitgenosse die äußeren Merkmale eines Fuchses assoziiert, macht die jeweilige Identität des Werfuchses aus.
Alle fünfzig Jahre ungefähr schieben wir unserem immergleichen Aussehen ein neues Seelensimulakrum unter und zeigen es der Menschheit vor. Auf diese Weise stimmt unser Inneres mit unserem Äußeren aus menschlicher Sicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt hundertprozentig überein. Dass es nicht mit dem Eigentlichen übereinstimmt, ist eine andere Sache, aber wer weiß das schon? Die meisten Leute haben überhaupt nichts Eigentliches, nur Äußeres und Inneres, wie Kopf oder Zahl einer Münze, von der der Mensch glaubt, dass er sie tatsächlich auf seinem Konto liegen hat.
Ich weiß, es klingt merkwürdig, doch es ist so: Den jeweiligen Mitmenschen zuliebe verpassen wir unserem Lärvchen von Zeit zu Zeit ein neues Ich, wie ein nach neuester Mode geschnittenes Kleid. Die vorherigen kommen in die Kleiderkammer, und bald müssen wir uns schon sehr anstrengen, wenn wir uns erinnern wollen, wie wir zuvor gewesen sind. Wir leben von Bagatellen, Flüchtigkeiten, die Spaß und Unterhaltung bieten. Mir scheint, das ist eine Art Evolutionsmechanismus, der uns Mimikry und Maskerade erleichtern soll. Denn die beste Mimikry ist es, wenn nicht nur dein Gesicht, sondern auch dein Denken den anderen angeglichen ist. Wohlgemerkt: Nur für die Werfüchse ist es Mimikry. Für den Menschen ist es Schicksal.
Vom Aussehen her werde ich so zwischen vierzehn und siebzehn geschätzt – mehr zur Vierzehn hin. Mein physisches Erscheinungsbild ruft bei den Menschen und insbesondere den Männern starke, widersprüchliche Gefühle hervor, die zu beschreiben keinen Spaß macht und außerdem überflüssig ist – haben doch auch die Lolitas heutzutage schon ihre Lolita gelesen. Diese Gefühle sind mein Brot. Wahrscheinlich wäre es nicht falsch zu sagen, dass ich von Betrügerei lebe, denn in Wahrheit bin ich durchaus nicht minderjährig. Lassen Sie mich der Bequemlichkeit halber mein Alter mit zweitausend Jahren angeben – diesen Zeitraum vermag ich jedenfalls mehr oder weniger komplett abzurufen. Man könnte mir das als Koketterie auslegen, tatsächlich bin ich weitaus älter. Die Ursprünge meines Lebens verlieren sich in grauer Vorzeit, mich daran erinnern zu wollen, hieße, mit einer Taschenlampe in den Nachthimmel zu leuchten. Wir Werfüchse sind nicht wie Menschen auf die Welt gekommen. Wir sind aus einem Himmelsstein hervorgegangen, es besteht eine entfernte Verwandtschaft mit Sun Wukong, dem Helden aus der Reise nach dem Westen. (Im Übrigen will ich mich nicht verbürgen, dass das alles stimmt – persönliche Erinnerungen an diese legendäre Zeit habe ich keine mehr.) Damals waren wir anders. Ich meine: innerlich, nicht äußerlich. Äußerlich verändern wir uns mit zunehmendem Alter nicht – sieht man davon ab, dass in unserem Schweif alle einhundertacht Jahre ein neues silbernes Haar auftaucht.
Im Vergleich zu manch anderem Vertreter meiner Sippe habe ich in der Geschichte keine sehr sichtbare Spur hinterlassen. Immerhin finde ich Erwähnung in einem Stück Weltliteratur, das kann man sogar auf Russisch lesen; dazu muss man in die Akademische Buchhandlung gehen und das Buch Der Mann, der einen Geist verkaufte von Gan Bao kaufen; dort findet man die Geschichte, wie zur späten Han-Zeit der Statthalter der Provinz Sihai seinen entlaufenen Oberleibwächter sucht. Der Statthalter erfährt, ein böser Geist habe den Wächter entführt, und so wird ein Trupp Soldaten auf die Spur des Verschollenen geschickt. Was dann folgt, kann ich bis heute nicht ohne Rührung lesen (die betreffende Seite trage ich als Talisman bei mir):
… den Flüchtigen zu finden, ließ der Statthalter einige Dutzend Soldaten zu Fuß und zu Pferde mit mehreren Jagdhunden an ihrer Seite das Gelände vor der Stadt durchstöbern. Tatsächlich wurde Xiao in einer leeren Grabkammer entdeckt. Nicht aber das Wertier, das hatte sich, als es die Menschen und die Hunde nahen hörte, verzogen. Die von Xiang entsandten Leute brachten Xiao zurück. Äußerlich glich er gänzlich einem Fuchs, menschliche Züge waren beinahe gar nicht mehr an ihm zu entdecken; »A Ze!« war alles, was er stammeln konnte. (A Ze ist eine geläufige Bezeichnung für einen Werfuchs.) Nach etwa zehn Tagen kehrte sein Verstand allmählich zurück, und er berichtete wie folgt: