»Alles?«
Er nickte.
»Na gut«, sagte ich. »Wird wohl so sein.«
»Sie glauben mir nicht?«
»Doch, doch. Man sieht's ja an dem Auto.«
Ein paar Sekunden fuhren wir schweigend. Ich blickte aus dem Fenster. Wir näherten uns dem Anfang des Twerskoi Bulwar.
»Ein neues Restaurant«, sagte ich. »Palazzo Ducale. Sind Sie schon mal da gewesen?«
Er nickte.
»Wen trifft man da so?«
»Die Üblichen.«
»Und wovon reden die Leute?«
Er dachte einen Moment nach. Dann sprach er mit gekünstelter Frauenstimme: »Was meinen Sie, ob der Shetschkow wohl schlechte Träume hat, wenn er jetzt in der Datscha von Volkskommissar Jeshow wohnt?« Die Antwort kam postwendend mit ebenso gekünstelter Bassstimme: »Nein, aber Volkskommissar Jeshow würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass Shetschkow jetzt in seiner Datscha wohnt…«
»Und wer ist Shetschkow?«, fragte ich.
Er blickte mich argwöhnisch an. Anscheinend musste man diesen Shetschkow kennen. Ich nahm mir vor, im Internet nachzuschauen.
»Nur so ein Beispiel«, sagte er. »Dafür, was dort so geredet wird.«
Ich erinnerte mich an Jeshows Datscha, wie sie in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gewesen war. Mir hatten die Gipslöwen mit den Kugeln unter den Tatzen am Eingang gefallen – die Visagen immer so ein bisschen schuldbewusst, als wüssten sie, dass sie ihren Hausherrn doch nicht bewachen konnten. Fast genau so ein Löwe hatte tausend Jahre zuvor vor dem Tempel der Huayan-Sekte gestanden – allerdings aus Gold, und mit einer Inschrift an der Seite, die ich bis heute auswendig weiß:
Wenn lebendige Geschöpfe irren, so liegt es daran, dass sie glauben, man könnte das Falsche verwerfen und die Wahrheit erkennen. Doch wer sich selbst erkennt, für den wird das Falsche wahr, und da ist keine andere Wahrheit, die man danach noch erkennen müsste.
Ach, was hatte man damals für Leute um sich! Wer wäre heute noch in der Lage, den Sinn dieser Worte zu erfassen? Alle sind sie in höhere Welten entschwunden. Nicht einmal aus Mitleid möchte einer noch in dieses Höllenlabyrinth hineingeboren werden, ich allein tappe hier durch das Dunkel… Wir stoppten an einer Kreuzung.
»Sagen Sie, Alexander, wohin fahren wir eigentlich?«, fragte ich.
»Vielleicht kennen Sie hier in der Nähe ein gutes Juweliergeschäft? Ich meine, ein wirklich gutes?«
Immer wenn ich in einer teuren Boutique erlebe, wie ein Kavalier einer jungen Dame eine Brosche im Wert eines kleinen Flugzeuges kauft, weiß ich hinterher wieder, dass menschliche Weibchen nicht schlechter als unsereins in der Lage sind, Fata Morganen zu erzeugen. Womöglich sogar besser. Dass eine Fortpflanzungsmaschine von Fleisch und Blut sich für einen zauberhaften Frühjahrsblüher auszugeben vermag, der eine kostbare Einfassung verdient – und die Illusion nicht nur wie wir minutenlang, sondern über Jahre und Jahrzehnte hinweg aufrechterhält, und dies ohne jegliche Schweifanwendungen! Das muss man erst einmal können. Wahrscheinlich hat die Frau, ähnlich wie ein Handy, eine eingebaute kleine Antenne dafür. Meine inneren Stimmen haben dazu das Folgende zu sagen:
1. spricht die Tatsache, dass die Frau als Fortpflanzungsmaschine sich für einen zauberhaften Frühjahrsblüher auszugeben imstande ist, dafür, dass man die weibliche Natur nicht aufs Gebären reduzieren darf; zumindest muss die Fähigkeit zur Gehirnwäsche einbezogen werden.
2. ist ein zauberhafter Frühjahrsblüher seiner Natur nach auch nur ein Fortpflanzungs- bzw. Gehirnwäschemechanismus, um dass das Fleisch hier grün ist, und den Bienen wird das Hirn gewaschen.
3. ist so eine kostbare Einfassung niemandem als der Frau etwas nütze, insofern lohnt es nicht, darüber nachzudenken, ob sie sie verdient oder nicht.
4. haben Handys mit eingebauter Antenne zwar ein handliches Gehäuse, aber einen miesen Empfang, insbesondere in Gebäuden aus Eisenbeton.
5. haben Aufklapphandys eine Außenantenne, ergo ein unhandliches Gehäuse, und der Empfang in Gebäuden aus Eisenbeton ist noch mieser.
Eine Frau ist ein friedliches Wesen, sie verdreht nur dem eigenen Männchen den Kopf, tut weder Vögeln noch anderen Tieren etwas zuleide. Sie tut es für ein höheres biologisches Ziel, nämlich um des eigenen Überlebens willen, was die Täuschung verzeihlich macht; sich da hineinzuhängen ist Werfuchses Sache nicht. Wenn aber ein verheirateter Mann, der sich in einem von seiner Freundin suggerierten Traum mit Horror- und Gothicelementen fest eingerichtet hat, nach einem Glas Bier plötzlich verkündet, die Frau wäre nichts weiter als ein Gebäraggregat, dann ist das mehr als lächerlich. Der Mann ahnt nicht, was für eine komische Figur er dabei macht. Ich möchte hier gar nicht auf den Grafen Tolstoi anspielen, vor dem ich mich verbeuge, ich spreche ganz allgemein.
Doch ich bin abgeschweift. Sagen wollte ich nur, dass die hypnotischen Fähigkeiten der Frau außer Frage stehen, und wer an ihnen Zweifel hat, kann diese zerstreuen, indem er ein Geschäft für teuren Schnickschnack aufsucht.
Bis zum letzten Moment hatte ich nicht geahnt, dass Alexander das Geschenk für mich kaufte. Zu einer solchen Annahme gab es einfach keinen Grund. Ich hatte gedacht, es ginge um ein Souvenir für irgendein Glamourpüppchen, und ihm allen Ernstes Ratschläge dafür gegeben. Entsprechend dämlich kam ich mir vor, als er mir die Tüte mit den zwei kleinen Etuis gleich nach dem Bezahlen überreichte. Das hatte ich nicht erwartet. Dabei sollten Werfüchse die Handlungen von Menschen voraussehen können – wenn schon nicht alle, so doch immerhin die, die uns persönlich betreffen. Davon hängt unser Überleben ab.
In zwei identischen weißen Schächtelchen lagen Ringe zu acht- und zu fünfzehntausend Dollar. Platin mit Brillanten. Der große Stein wog null Komma acht, der kleine null Komma fünf vier Karat. Tiffany & Co. Dreiundzwanzigtausend Dollar – das muss man sich vorstellen! Wie viele Male müsste ich dafür den Schweif aufstellen!, dachte ich mit beinahe so etwas wie Sozialneid. Und das Verrückteste war, dass er gar nichts von mir wollte. Nur meine Telefonnummer. Er sagte, er fliege irgendwohin in den Norden und rufe an, wenn er zurück sei, so in zwei Tagen.
Die Ringe zu kaufen war übrigens gar nicht so einfach. Die Verkäuferin konnte sich lange nicht entschließen, eine so gewichtige Transaktion allein zu vollziehen, ebenso wenig die Kassiererin. »Ohne den Manager kann ich das nicht«, sagte sie, das Fremdwort auf dem zweiten a betonend. Ich meinte eine subtile Geringschätzung darin zu erkennen. So verpackt Mutter Heimat ihre Brillanten in Klassenhass …
Erst zu Hause in Bitza merkte ich, wie müde ich war – ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, in mein E-Mail-Postfach zu schauen. Bis zum darauffolgenden Mittag schlief ich durch. Meine Träume passten verdächtig gut in die Borgesschen Schubfächer: Verteidigung einer Festung und so weiter – es muss die Belagerung einer Stadt zur Zeit des Aufstands der Gelben Turbane gewesen sein. Ich war unter den Verteidigern und schleuderte schwere Wurfspieße von der Mauer hinab.
Symbolik muss mir keiner erklären, dagegen bin ich allergisch. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts machte ich mir selbst einen Spaß daraus, unseren roten Freudianern die romantischen Köpfe zu verdrehen, indem ich ihnen erfundene Träume erzählte: »Und dann fielen uns die Schweife ab, und es hieß, sie steckten nun in einer Kokosnuss, die über einem Wasserfall hängt.« Wenn ich im Traum Spieße werfe, heißt das nicht, dass ich mir über die Symbolik des Geschehens nicht im Klaren bin. Aber es heißt erst recht nicht, dass ich mir Rechenschaft darüber ablege. All diese Rechenschaftsberichte habe ich vor langer Zeit ins Archiv gegeben, es sind Staubfänger.
Nach dem Ausschlafen arbeitete mein Kopf klar und präzise, und das Erste, worüber ich nachdachte, war der finanzielle Aspekt der Geschichte. Mein persönlicher Index rückte in den zartgrünen Bereich: Wenn zwei Ringe im Laden dreiundzwanzigtausend kosten, heißt das, man kann sie für circa fünfzehntausend losschlagen.