Noch am Morgen hatte ich über das alte Rom meditiert und an Sueton gedacht – vielleicht war dies der Auslöser gewesen für die in mir erwachte Experimentierfreude. Sein Bericht über Tiberius' Orgien auf Capri fiel mir ein: Dort war von so genannten Spintrien die Rede, die die Sinnlichkeit des alternden Imperators entfachen halfen, indem sie sich vor seinen Augen zu dreien paarten. Die Geschichte reizte meine Vorstellungskraft – das ging so weit, dass ich den Namen eines unschuldigen Computerspiels, Splinter Cell nach Tom Clancy, in diese Phantasien einbaute. Hier nun, in Gesellschaft dreier moralischer Außenseiter, konnte ich mich eines Experiments nicht enthalten. Und ich kriegte es wunderbar hin! Besser gesagt: Sie kriegten es hin. Was Tiberius an diesem rüden Schauspiel sinnlich gefunden hatte, blieb mir allerdings ein Rätsel – meiner Ansicht nach taugte es bestenfalls als Illustration für eine der edelsten Weisheiten des Buddhismus: Leben ist dukha, Sehnsucht und Schmerz. Aber das hätte ich auch ohne die Dreieinigkeit kopulierender Polizisten gewusst.
Auf dem Revier fanden sich viertausend Dollar in bar, die mir äußerst gelegen kamen. Außerdem stieß ich auf ein Fotoalbum zu Lehrzwecken mit Tätowierungen aus dem kriminellen Milieu, das ich neugierig durchblätterte. Wohin die Entwicklung in diesem Genre ging, entsprach ganz der Richtung, die die Weltkultur im Allgemeinen nahm: Das religiöse Bewusstsein eroberte sich die im zwanzigsten Jahrhundert verlorenen Positionen zurück. Auch wenn man seine Entäußerungen nicht immer gleich als solche wahrnahm. Zum Beispiel verstand ich nicht auf Anhieb, dass die Wortfolge SWAT SWAT SWAT (unter ein blaues Kreuz tätowiert, das einem deutschen Ritterkreuz ähnlicher sah als jedem Kruzifix) keineswegs das berüchtigte Sonderpolizeikommando von L. A. Special Weapon And Tactics verherrlichte – gemeint war das Heilig, heilig, heilig! der orthodoxen Liturgie in lateinischen Buchstaben.
Am meisten beeindruckte mich ein Rückendiptychon, Himmel und Erde darstellend. Der Himmel befand sich zwischen den Schulterblättern: Dort schien die Sonne, und Engelein schwebten, die wie Brieftauben aussahen. Den Erdkreis repräsentierte das Moskauer Wappen mit seinem Drachenkämpfer zu Pferde, nur dass anstelle des Speers verschiedenfarbige Strahlen aus der Handfläche des Reiters auf die Drachen hinabstießen – von ihnen gab es mehrere, einer schiefer, säuerlicher und platt gedrückter als der andere und trotzdem irgendwie knuffige kleine Kerlchen, die über eine baumbestandene Allee das Weite suchten. Das Ganze trug einen Namen, und der war: Der Hl. Georg vertreibt die Lesben vom Twerskoi Bulwar.
Eine in einen Bierbauch gestochene Kreuzigung interessierte mich der Buchstaben wegen, die in einer Girlande oberhalb des Kreuzes schwebten: dort, wo normalerweise INRI steht: Jesus von Nazareth, König der Juden – hier aber stand EMEW. Ohne den Kommentar unter dem Foto wäre ich nie darauf gekommen, was das bedeutete: Ein Mann – Ein Wort. Gnostisches Fresko aus den Zeiten von Boris Monomachos.
Ich überblätterte ein paar Seiten, auf denen die altbewährten Sortimente: Stalins, Hitlers, Drachen, Spinnen, Haie etc. vorkamen (unter einem von letzteren der Spruch: In tiefer Ergriffenheit), bevor ich wieder auf das Thema Religion stieß. Jemandes Rücken zierte ein Höllenpanorama mit vielen verlorenen Sünderlein. Besonders eindrucksvoll ein halb von Würmern zerfressener Bill Gates und ein im Feuer schmorender Bin Laden, er trug ein frivoles weißes T-Shirt mit dem Aufdruck:
Auf der letzten Seite schließlich gab es eine dystrophisch blasse Schulter zu sehen und auf ihr einen Atompilz, der anstelle der Kappe den Nike-Swoosh trug, NUKE stand darunter. Offenbar eine Erinnerung an die Zukunft.
Unter dem Stöhnen und Schnaufen der Spintrien kam einem das alles noch viel unerfreulicher vor. Wohin geht die Menschheit? Wer geht voraus? Was wird in fünfzig Jahren auf der Erde los sein? In hundert? Meine frühlingshafte Stimmung trübte sich ein, trotz der guten Ausbeute. Was diese anging, regte sich mein Gewissen übrigens nicht im Geringsten. Ich hatte nicht das Gefühl, einen Diebstahl zu begehen. Die Bullen hatten ihren Sex bekommen und ich mein Geld. Und dass ich teuer bin – daraus habe ich nie einen Hehl gemacht.
Auf dem Nachhauseweg gingen mir die Tätowierungen nicht aus dem Sinn. Ich liebe Tattoos, auch wenn ich mir selbst fast nie eins machen lasse. Bei Werfüchsen halten sie sowieso nie länger als zwanzig Jahre. Außerdem zerfließen sie häufig zu bizarren Formen. Das hängt mit gewissen Eigenheiten unseres Körperbaus zusammen. In den letzten hundert Jahren habe ich nur ein einziges Mal ein Tattoo getragen: zwei Zeilen Text, die der Dichter Wystan Hugh Auden mir auf ewig ins Herz eingebrannt hat, der einäugige Stecher Slawa Kosoi sengte sie mir für eine Weile in die Schulter:
I am a sex machine,
And I'm super bad.
Darunter hing eine dicke blaue Träne; ich weiß nicht, warum die Kunden sie immer für eine Zwiebel oder ein Klistier hielten, man musste annehmen, die Bewohner des verstaubten Sowjetparadieses wussten tatsächlich nicht mehr, was Traurigkeit ist.
Mit dieser Tätowierung gab es damals übrigens eine Menge Stress. Ständig wurde ich von Bullen oder Hilfsbullen angehalten, die wissen wollten, was da in der Sprache des potentiellen Feindes geschrieben stand. (Der Kampf gegen die »Halbstarken« lief gerade auf Hochtouren.) Folglich waren immer wieder Hypnosubbotniks abzuleisten, weit strapaziöser als dieser hier. Kurzum, die Lust, im ärmellosen Kleid herumzulaufen, wurde mir vergällt. Dabei ist es bis heute geblieben, auch wenn die Tätowierung längst ausgeblichen ist, der potentielle Feind auf leisen Sohlen angeschlichen kam und, kaum dass der Staub sich gesetzt hatte, als potentieller Verbündeter einstieg.
Zu Hause schaltete ich den Fernseher ein, es lief gerade der BBC World Service. Zuerst kam Click, ein Internet-Panorama, moderiert von einem, der aussah wie Clinton; dann folgten die Nachrichten. Das forsche Gebaren des Anchorman deutete auf stolze Fangergebnisse hin.
»Heute ist in London ein Attentat auf den tschetschenischen Exil-Essayisten Aslan Udojew verübt worden. Ein Selbstmordattentäter aus einer schiitischen Kampftruppe versuchte ihn in den Tod zu reißen. Aslan Udojew kam mit einer leichten Gehirnerschütterung davon, zwei seiner Leibwächter starben am Tatort.«
Gezeigt wurde das schmale Dienstzimmer eines Polizeibeamten, der vor der schwarzen Mündung des Mikrofons bedachtsam seine Worte wählte: »Wir wissen, dass der Attentäter versucht hat, sich Aslan Udojew zu nähern, während dieser im St. James Park Eichhörnchen fütterte. Als Udojews Leibwache den Terroristen bemerkte, zündete er seinen Sprengsatz …«
Auf dem Bildschirm erschien der Berichterstatter vor Ort, er stand auf einem Balkon, der Wind raufte ihm die strohgelben Haare, und um seine Lippen spielte ein kleines Lächeln, wie der Abglanz eines wohltuenden Geheimwissens, das er mit den Zuschauern teilte.
»Andere Quellen behaupten, dass der Sprengsatz zündete, bevor der Attentäter am beabsichtigten Ort angelangt war. Die Detonation erfolgte exakt um 12:00 westeuropäischer Zeit. Die Polizei enthält sich bisher jeglichen Kommentars. Zeugen des Ereignisses wollen gehört haben, dass der Selbstmordattentäter vor der Detonation nicht wie sonst üblich ›Allah Akbar!‹, sondern ›Same Shi'ite Different Fight!‹ gerufen habe. Hier gehen die Zeugenaussagen etwas auseinander, der Terrorist sprach offenbar mit stark arabischem Akzent. ›Same Shi'ite Different Fight!‹ war bereits zuvor als Name einer schiitischen Terrororganisation bekannt geworden, die nach eigenen Aussagen eine zweite Dschihad-Front in Europa zu errichten beabsichtigt. Ideologisch soll die Gruppierung der al-Mahdi-Armee des radikalen Geistlichen Mokhtada al-Sadr nahe stehen.«