»Also, weißt du!«, sagte ich und ließ die Werwölfe zu Boden fallen. »Der Wert eines Buches bemisst sich doch nicht danach, wie viele Leser es hat. So wie die Genialität der Mona Lisa nicht davon abhängt, wie viele Leute pro Jahr an ihr vorbeiströmen. Die besten Bücher haben die wenigsten Leser, denn sie zu lesen strengt an. Erst diese Anstrengung sorgt für die ästhetische Wirkung. Literarisches Fast Food kann dir dergleichen nicht bieten.«
Er fasste mich um die Schultern.
»Ich hab dich schon mal gebeten, nach Möglichkeit ein bisschen einfacher zu reden.«
»Noch einfacher ließe es sich so sagen: Lesen ist Kommunikation. Mit wem wir kommunizieren, entscheidet darüber, was wir sind. Stell dir vor, du wärest Fernfahrer. Die Bücher, die du liest, sind die Anhalter, die du mitnimmst. Wenn es kluge, kulturvolle Menschen sind, dann lernst du etwas dazu. Nimmst du immer nur Idioten mit, dann bist du bald selbst einer. Sich mit Krimis zu vergnügen, das ist wie … wie wenn du eine kleine, ungebildete Nutte mitnimmst, nur damit sie dir einen bläst.«
»Wen schlägst du denn vor mitzunehmen?«, fragte er, während er mir die Hand unter das T-Shirt schob.
»Man sollte ernsthafte, anspruchsvolle Bücher lesen, Zeit und Mühe dafür nicht scheuen.«
Seine Hand landete an meinem Bauch.
»Aha«, sagte er. »Als Trucker sollte ich mir also deiner Meinung nach einen kahlköpfigen alten Schnobelpreisträger auf den Beifahrersitz laden? Und mich zwei Wochen lang von ihm in den Arsch ficken lassen, während ich dem Gegenverkehr ausweiche? Verstehe ich dich richtig?«
»Na, prima. So lässt sich alles in den Dreck reden«, sagte ich und verstummte.
Selber schuld, warum musste ich auch wieder auf meiner Fernfahrerfellatio herumreiten, mit der ich schon Pawel Iwanowitsch unglücklich gemacht hatte. Etwas Blöderes als abschätzige Bemerkungen über Prostituierte hätte mir wohl kaum einfallen können – wusste Alexander doch, welcher Beschäftigung ich nachging. Blieb nur zu hoffen, dass er es als Zeichen von Unterwerfung ansah. Seine Antwort hatte ganz danach geklungen.
Wir Werfüchse haben ein ernsthaftes Handicap. Ist uns einmal etwas Einprägsames zu Ohren gekommen, kauen wir es im Gespräch mit anderen wieder, ganz gleich, wie klug oder dämlich es ist. Denn leider ist unser Geist nur ein ebensolcher Fake wie die Schwanzfänger-Hautfalte unter unserem Schweif. Als echtes »Denkorgan« nicht zu gebrauchen. Das Denken überlassen wir den Menschen auf ihrem heroischen Slalom-Parcours vom Unaussprechlichen bis ins Grab. Der Werfuchsverstand ist nur ein Tennisschläger, mit dem wir den Gesprächsball zu einem beliebigen Thema beliebig oft zurückprallen lassen können. Wir geben den Leuten die Urteile zurück, die wir uns zuvor bei Ihnen ausgeborgt haben – nur in anderem Winkel, angeschnitten oder auch mal als steile Kerze nach oben.
Ich darf in aller Bescheidenheit anmerken, dass meine Simulationen das Original beinahe immer übertreffen. Möchte man die Tennisanalogie noch etwas weiter treiben, so pariere ich jeden noch so schwierigen Ball in gediegener Manier. Man muss allerdings sagen, dass die Menschen ausnahmslos schwierige Bälle in ihren Köpfen haben. Man fragt sich: Wer schlägt diese Bälle eigentlich auf? Sind es wirklich die Menschen? Oder muss man den Aufschlagenden ganz woanders suchen, an einem Ort, der keiner ist?
Man muss abwarten, bis einmal ein Gespräch zu diesem Thema mit irgendeinem klugen Menschen stattfindet. Dann werden wir sehen, wohin ich den Ball platziere. Auf die Art erfahre ich meine Wahrheiten übrigens schon seit mehr als tausend Jahren.
Während ich diesen Gedanken zu Ende dachte, hatte Alexander mir das T-Shirt ausgezogen. Ich leistete keinen Widerstand, hob nur etwas gequält die Brauenenden – ganz die kleine Ballerina, die auf dem Weg zur Philharmonie schon wieder von einem großen rothaarigen SS-Mann vergewaltigt wird. Was soll man machen, Genossen. Sind nun mal Besatzer …
Allerdings war die Ballerina für das Treffen heute gerüstet. Ich trug Unterwäsche: weiße Spitzenhöschen, in die ich mit der Nagelschere ein Loch für den Schweif geschnitten hatte, sowie drei gleiche Bikini-Oberteile, Größe 0, auch mit Spitze. Die zwei unteren hatten nichts zu halten, aber sie schnürten sich ein wenig in die Brust ein und sorgten so selbst für einen kleinen Inhalt. Ich hatte selbstverständlich nicht vor, wölfischen Ansprüchen Genüge zu tun. Es war eine postmodernistische Ironisierung des Geschehens, eine Variation auf das Thema Tier im Manne, worüber er so ausdauernd bei unserer letzten Begegnung gesprochen hatte.
Ich war mir nicht sicher, ob ihm mein Scherz zusagen würde, und darum ein bisschen aufgeregt. Aber es funktionierte. Und zwar so gut, dass die Verwandlung sofort einsetzte.
Diesmal war ich nicht so erschrocken und konnte besser verfolgen, was geschah. Als Erstes kam die zottige graue Rute hervorgesprungen. Das wirkte ziemlich sexuelclass="underline" wie eine aus dem Rückgrat schnellende Feder, deren Druck übermächtig geworden war. Der Körper zog sich krumm, Kopf und Schweif ruckten aufeinander zu wie die Enden eines Flitzbogens mit unsichtbar sich straffender Sehne. Dann wuchs ihm der Pelz.
Das Wort wachsen trifft es freilich nicht ganz. Jacke und Hosen zerfielen gewissermaßen zu Fell – als wären Biesen und Achselklappen vorher mit Gouachefarbe auf die anklitschende nasse Mähne gemalt gewesen und zerbröselten nun infolge heftiger Trockenheit in viele einzelne Haare.
Zugleich schwoll er und spreizte sich im Ganzen, und das auf eine wie selbstverständliche Weise. Derart große Wölfe gibt es in natura nicht; eher ähnelte er einem Bären nach absolvierter Abmagerungskur. Doch dieser Körper war echt, leibhaftig. Ich spürte sein Gewicht, als Alexander sich mit der Pfote auf meine Hand stützte: Sie versackte tief im Sofapolster.
»Du zerquetschst mich, Isegrim!«, quiekte ich, und er nahm die Pfote weg.
Das Empfinden der eigenen Stärke und meiner Schwäche schien ihn zu berauschen. Seinen monströsen Rachen über mich geneigt (der Atem heiß, aber irisch wie bei einem Säugling), biss er nacheinander alle drei Büstenhalter durch und zog sie mit seinen grässlichen behaarten Klauen herunter.
Jedes Mal zerriss es mir fast das Herz, so nahe war das Klacken seiner Hauer. Sie waren scharf wie Rasiermesser – wozu hielt er sich eigentlich diesen Monica-Lewinsky-Zigarrenabschneider auf dem Schreibtisch? Ach so, das Zigarrenrauchen fiel vermutlich in seine Menschenphasen.
Nachdem er auf gleiche Weise mit meinem Höschen umgesprungen war, machte er einen Satz zurück und fauchte, als wollte er mich in Stücke reißen. Sodann fiel er vor mir auf die Knie, legte seine Riesenklauen wie ein Höllenorganist auf die zarten Tasten meiner Schlüsselbeine … Das wars!, dachte ich mir.
Doch er vermied es, mir wehzutun. Von mir aus hätte er sich getrost ein wenig aggressiver aufführen können – ich war darauf gefasst. Ich meine, ich war auf Schmerzen eingerichtet und bereit, einiges mehr auszuhalten. Die Prüfung fiel weniger strapaziös aus als erwartet.
Aber so war es auch nicht schlecht.
Der Ordnung halber stöhnte ich natürlich trotzdem von Zeit zu Zeit: »Aua, aua! Stoß doch nicht so arg, Isegrim! Zart und rhythmisch bitte … na also.«
Die Antwort von I Huli war lang.
Grüß Dich, Rotschwänzchen.
Schön zu sehen, dass Du Dich überhaupt nicht verändert hast. Versuchst immer noch, meine verirrte Seele auf den rechten Pfad zu lenken.
Wie Du schreibst, ziehen sich dunkle Wolken über Dir zusammen, Ist das Dein Ernst? Soweit ich mich erinnern kann, haben sich die letzten siebenhundert Jahre immer Wolken über Dir zusammengezogen; erfahrungsgemäß hat es in der Mehrzahl der Fälle genügt, an etwas anderes zu denken. Vielleicht ist ja auch diesmal alles halb so schlimm?