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Und Du möchtest tatsächlich nach England übersiedeln? Glaubst Du, es könnte Dir hier besser ergehen?

Du musst wissen, der Westen ist eine einzige große Shopping mall. Märchenhaft, von der Seite betrachtet. Aber man musste schon im Ostblock leben, um ihre Schaufenster auch nur für Momente als real anzusehen. Zu diesem Zweck hat es Euch überhaupt nur gegeben, scheint mir. Weißt Du noch, der Marsch der Roten Flieger? »Wir sind geboren, Märchen wahr zu machen«? In Wirklichkeit kannst du hier nur in drei Rollen auftreten: als Käufer, als Verkäufer oder als Ware auf dem Ladentisch. Verkäufer zu sein ist banal, Käufer zu sein langweilig (außerdem musst du sowieso noch als Verkäufer dazuverdienen) und Ware zu sein widerwärtig. Jeglicher Versuch, etwas anderes sein zu wollen, läuft de facto auf jenes Nichtsein hinaus, mit dem die Kräfte des Marktes einen jeden Hamlet sehr schnell in die Schranken weisen. Der Rest ist Spektakel.

Weißt du, worin der wahre Schrecken eines Lebens im Westen verborgen liegt? Du gehst dir eine Jacke kaufen oder ein Auto oder sonst was und hast dank der Werbung ein sehr genaues Bild von dem Ort in deinem Kopf, wohin du in dieser Jacke gehen oder in diesem Auto fahren wirst. Nur dass der Ort außerhalb des Werbeclips gar nicht existiert. Dieses schwarze Loch in der Wirklichkeit beklagen alle seriösen westlichen Philosophen. Bei aller Freude am Shopping weiß man und möchte es doch nicht wahrhaben, dass unsere ganze Welt ein einziges großes Skigeschäft mitten in der Sahara ist. Es reicht also nicht, Skier zu kaufen, man braucht auch noch Kunstschnee. Du verstehst die Metapher?

Außerdem haben wir Werfüchse noch mit einem speziellen Problem zu kämpfen. Von Jahr zu Jahr wird es schwieriger, die eigene Identität zu bewahren. Sich noch als Prostituierte zu fühlen, da doch die ganze Umgebung sich mehr und mehr prostituiert. Du hörst, wie Dein alter Freund vertraulich zu Dir spricht, und weißt schon im selben Moment, dass er Dir gleich empfehlen wird, zwei Flaschen Anti-Schuppen-Shampoo zu kaufen, um eine dritte kostenlos dazuzukriegen. Mir schwirrt noch ein Wort im Kopf herum, das Du früher an jeder passenden und unpassenden Stelle ins Gespräch einzuflechten bemüht warst: Uroboros. Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, wenn ich mich recht entsinne. Wenn so eine Schlange Kopf und Schwanz nur noch als special effects im Werbeclip hat, wird sie sich über ihren zappelnden fetten Leib nur noch sehr bedingt freuen können. Das heißt, sie könnte, wenn sie wüsste, womit.

Eure Welt wird bald so sein wie unsere (jedenfalls für die, die das Erdöl zu uns rüberpumpen dürfen). Noch aber existieren dort drüben bei Euch Grauzonen, in deren Ambivalenz man sich flüchten kann. Dort kann ein Seelchen wie Deines wenn schon nicht sein Glück, so doch sein inneres Gleichgewicht finden. Wenn andere solche Ambivalenzzonen für Dich schaffen, dann freue Dich und genieße sie, solange sie noch da sind. Die Welt wird nicht immer so bleiben. Lass Dir das – in Erwiderung auf Deine Predigt – von mir gesagt sein!

Nun zu den englischen Männern. Aus den kurzen Begegnungen im National solltest Du Dir kein Bild machen. Hier sind sie vollkommen anders. Erinnerst Du Dich an Yuan Mei, den Schwester E im Jahre 1739 ehelichte? Du hast ihn bestimmt nicht vergessen: ein Gelehrter an der Hanlin-Akademie, der die mandschurische Sprache studierte und Geschichten über das Böse sammelte … Er wusste übrigens, wer Schwester E in Wirklichkeit ist. Eben darum hat er sie geheiratet. Sein Buch (es hieß Wovon Konfuzius nicht sprach) besteht zur Hälfte aus ihren Erzählungen, doch gibt es auch interessante ethnographische Schilderungen darin. Zur damaligen Zeit hat man England noch als das Land der Rothaarigen bezeichnet. Lies einmal, was Yuan Mei über die Engländer geschrieben hat – ich gebe Dir den Absatz ungekürzt wieder:

407. Die Bewohner des Landes der Rothaarigen bespucken Sängerinnen

Die Bewohner des Landes der Rothaarigen treiben des Öfteren mit Sängerinnen ihre liederlichen Späße. Veranstalten sie Gelage, laden sie Sängerinnen dazu, entkleiden sie, setzen sich im Kreis um sie herum und spucken ihnen auf die intime Stelle. Größerer Nähe bedürfen sie nicht. Wenn das Spucken zu Ende ist, werden die Sängerinnen großzügig belohnt (solches heißt: Geld aus dem großen Topf) und entlassen.

Dieser Bericht, so historisch unglaubwürdig er einem vorkommen mag, widerspiegelt erstaunlich präzise die Handlung, die der englische Aristokrat an der sich ihm offenbarenden weiblichen Seele begeht. (Glücklicherweise lässt das hiesige Bildungssystem mit seinen Privilegien die Mehrzahl von ihnen schon in zarter Jugend homosexuell werden.) Früher, wenn ich den Engländern so zusah, habe ich mich immer gefragt: Was mag hinter diesem undurchdringlichen, mit den Jahrhunderten stahlgewordenen Arroganzpanzer wohl stecken? Aber dann begriff ich: Dahinter steckt nichts als die oben beschriebene simple Handlung. Dieser Minimalismus ist das Unterpfand für die Stabilität der hiesigen Weltordnung.

Glaub mir, bist Du erst einmal in London, wirst Du Dich als Spucknapf fühlen, einsam wandelnd zwischen all den Dir in die Seele rotzenden Snipers, für die die Gleichberechtigung der Frau nur den Wert hat, damit »Geld aus dem großen Topf« zu sparen.

Und was das Überwertier angeht … Da scheinst Du mir etwas zu sehr in Nabelschau befangen, weißt Du. Überleg doch maclass="underline" Wenn alles Wesentliche nur in uns selbst läge, wozu gäbe es dann überhaupt noch eine äußere Welt? Oder glaubst Du, dass von ihr keine Überraschungen mehr zu gewärtigen wären und es daher genügte, auf einem staubigen Meditationsteppich vor der Wand zu hocken und jeden Anflug eines Gedankens abzuwehren wie ein Schwimmer die toten Quallen? Und wenn nun plötzlich der Goldene Butt dazwischen auftaucht? Mir scheint, diese Welt abhaken zu wollen, ist es noch zu früh. Könnte sein, dass man sich nur selber damit abhakt. Weißt Du, was mein Männlein gestern zu mir sagte? »Das Überwertier wird kommen, und du wirst es sehen, so deutlich, wie du mich hier stehen siehst.« Selbst wenn ich Dir also insgeheim Recht gäbe – wie könnte ich einem Oberhaupt aus dem Hause Cricket widersprechen? :-=))) Aber weißt Du was, meine Liebe, lass uns das alles diskutieren, wenn wir uns sehen. Nächste Woche kommen Brian und ich nach Moskau – Handy nicht ausschalten!

Ich liebe Dich und denk an Dich,

Deine I

Ich las den Brief und schüttelte den Kopf. Da sollte es wohl demnächst jemandem an den Kragen gehen. Das Zeichen :-=) (es sah aus wie Kriegsverbrecher Hitler, wenn er grinste) war einer von I Hulis gängigen Zinken. Er bedeutete, dass sie etwas Böses und Gemeines ausheckte. Was hätte man vom gnadenlosesten Werfuchs der ganzen Familie auch anderes erwarten sollen? So ist sie immer, dachte ich. Du bittest sie um Hilfe, und sie rät dir, an etwas anderes zu denken. Wolken? Ach, das träumst du doch bloß …

Aber vielleicht hatte sie ja sogar Recht? Die Dinge standen durchaus nicht so schlecht, wie ich noch gestern angenommen hatte. Ich brannte darauf, jemandem von meiner unfreiwilligen Affäre zu erzählen. Bloß wem? Natürlich hätte ich irgendeinem Taxifahrer mein Herz ausschütten können, um ihm dieses Wissen anschließend wieder zu entziehen. Aber Mutwille im Straßenverkehr ist riskant. Nein, besser war es, ich wartete auf I Huli. In ihr würde ich eine aufmerksame Zuhörerin finden. Zumal sie sich schon so viele Jahrhunderte über meine Jungfräulichkeit lustig machte. Nun konnte ich sie endlich einmal in den Schatten stellen. Denn bei aller Raffinesse: So einen Lover hatte sie noch nie gehabt – von ihrem Yaksa-Dämonen im sechzehnten Jahrhundert vielleicht einmal abgesehen. Und selbst der musste im Vergleich zu Alexander mickrig erscheinen …