An dieser Stelle besann ich mich – der Brief des Schwesterleins erinnerte mich an das Wesentliche.
Wenn dich Jubel oder Traurigkeit im Alltag hinwegreißen wollen, dann ist für Übungen die beste Zeit – das war mir seit langem klar. Ich schaltete den Computer aus, breitete eine Gymnastikmatte aus Schaumstoff auf dem Fußboden aus. Hervorragend geeignet zum Meditieren, solche hatten wir früher leider nicht. Darüber kam ein mit Buchweizenspelzen gefülltes Kissen, auf dem ich im Lotossitz, mit hängendem Schweif, Platz nahm.
Die spirituelle Praxis der Werfüchse umfasst eine Kontemplation des Geistes und eine Kontemplation des Herzens. Heute wollte ich die Meditation mit der Kontemplation des Herzens beginnen. Das Herz spielt bei dieser Technik eine rein metaphorische Rolle. Die Krücken der Übersetzung: Das chinesische Schriftzeichen Sin hat vielerlei Bedeutungen, ein genauerer Ausdruck schiene mir hier die Kontemplation des tiefsten Inneren zu sein. Sieht man die Sache wiederum ganz praktisch, wäre Schweifziehen die zutreffende Bezeichnung.
Zieht man einen Hund oder eine Katze am Schwanz, fühlen sie Schmerz, das weiß jedes Kind. Zieht man einen Werfuchs kräftig am Schweif, geschieht etwas, das selbst der klügste unter den schwanzlosen Affen nicht einsehen wird: Ein Werfuchs fühlt in diesem Moment die ganze Bürde seiner Untaten. Das kommt, weil es der Schweif ist, mit dem er sie begeht. Und weil nun einmal jeder Werfuchs, von ein paar Blindgängern abgesehen, Leichen sonder Zahl im Keller hat, führt jedes Ziehen zu einem ungeheuren Gewissensbiss, begleitet von grauenerregenden Gesichten und niederschmetternden Visionen, bei denen man am liebsten seine Tage beschließen möchte. Die übrige Zeit werden wir vom Gewissen nicht behelligt.
Alles hängt hier davon ab, wie sehr und wie plötzlich man zieht. Auch wenn wir zum Beispiel während der Hühnerjagd (von ihr wird noch die Rede sein) mit dem Schweif an einem Busch hängen bleiben, regt sich das Gewissen ein wenig. Doch sind die betreffenden Muskeln während der Fortbewegung angespannt, was die Wirkung abmildert. Das Wesen der Kontemplation des Herzens als spiritueller Übung besteht nun darin, sich genau in dem Moment am Schweif zu ziehen, wo alle seine Muskeln maximal entspannt sind.
Das klingt viel einfacher, als es ist. Denn die Kontemplation des Herzens lässt sich von der Kontemplation des Geistes nicht trennen; um diese Technik korrekt auszuführen, muss man das Bewusstsein in drei autonome Ströme kanalisieren:
1. Bewusstseinsstrom 1 – das ist der Geist, der sich an all seine dunklen Machenschaften seit undenklichen Zeiten erinnert;
2. Bewusstseinsstrom 2 – das ist der Geist, der den Werfuchs dazu bringt, sich spontan und überraschend am Schweif zu ziehen;
3. Bewusstseinsstrom 3 – das ist der Geist, der entrückt auf die Ströme 1 und 2 achthat und auf sich selbst noch dazu.
Bewusstseinsstrom 3 lässt sich, wenn man es nicht zu genau nimmt, als Kern einer Kontemplation des Geistes ansehen. All diese Praktiken sind Vorstufen, man muss sie tausend Jahre lang ausüben, ehe man zum Eigentlichen kommen kann, jener Übung, die Schweif der Leere oder auch Kunstlosigkeit geheißen wird. Eine Geheimtechnik, über die nicht einmal erfahrene Werfüchse richtig Bescheid wissen, die wie ich den tausendjährigen Vorbereitungszyklus längst durchlaufen haben.
Ich nahm also den Lotossitz ein, legte die linke Hand auf das Knie, die rechte an den Schweif. Konzentrierte mich. Begann mir die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen – jene ihrer Schichten, die der Strom der Gedanken im Alltag normalerweise verdeckt. Bis plötzlich, vollkommen unerwartet für mich selbst, meine rechte Hand kräftig am Schweif riss. Der Schmerz fuhr bis ins Mark. Doch er war gar nichts im Vergleich zu dem Schwall von Reue, Entsetzen, Scham ob des Begangenen, der mit solcher Gewalt über mich hereinbrach, dass mir Tränen in die Augen schossen.
Gesichter von Menschen, die die Begegnung mit mir nicht überlebt hatten, fegten an mir vorüber wie gelbes Laub im Herbststurm vor dem Fenster. Für eine Sekunde nur erstanden sie aus dem Nichts, doch diese Sekunde genügte, dass jedes Augenpaar einen Blick voller Schmerz und Unverständnis auf mich richten konnte. Ich sah sie mir an, erinnerte mich, was gewesen war, und die Tränen rannen mir in zwei Bächen über die Wangen, die Reue zerriss mir schier das Herz.
Zugleich aber fiel mir wieder einmal wie Schuppen von den Augen, dass alles Geschehen nur Spiegelfechterei war, Gedankenflimmern, in Gang gesetzt von ein wenig geistiger Zugluft, und war dieses Flimmern erst vorüber, so würde offenbar, dass geistige Zugluft, Spiegelfechtereien, auch so etwas wie »der Geist an sich« gar nicht existieren – was bleibt, ist dieser klare, ewige, alles durchdringende Blick, vor dem keine Gegenwart Bestand hat.
Diese Übung praktiziere ich seit ungefähr zwölf Jahrhunderten.
Zwischen Alexander und mir bestand von Anfang an die stille Übereinkunft, einander nicht mit Neugier zu quälen. Mich hatte nicht zu interessieren, worüber er aufgrund diverser Schweigeverpflichtungen und ähnlicher Geheimdienstkrämerei sowieso nicht hätte reden dürfen. Und er stellte mir keine überflüssigen Fragen, weil meine Auskünfte ihn womöglich in einen Zwiespalt gebracht hätten. Was, wenn ich zum Beispiel eine chinesische Spionin war? … So ließ sich die Sache übrigens durchaus darstellen – ich besaß ja nicht einmal einen Personalausweis, nur einen gefälschten Pass.
Diese Situation behagte mir nicht so ganz. Liebend gern hätte ich ein bisschen mehr über ihn gewusst. Und auch ihm setzte die Neugier zu, das sah man. Doch wir erkundeten einander nur sehr allmählich, abtastend – die Wahrheiten kamen in homöopathischen Dosen ans Licht.
Mir gefiel es, seine Wangen zu küssen, kurz bevor er zum wilden Tier wurde. (Ihn auf den Mund zu küssen konnte ich mich nicht entschließen – was merkwürdig war, bedenkt man den erreichten Grad an Intimität.) Im Übrigen waren diese Zärtlichkeiten nie von langer Dauer; schon nach wenigen Berührungen setzte die Transformation ein, und von da an waren Küsse nicht mehr möglich.
So viele Jahrhunderte war der Kuss für mich ausschließlich ein Element der Vorspiegelung gewesen, nun küsste ich auf einmal richtig, wenn auch auf kindliche Weise … Das hatte etwas von einem Traum. Oft hing ihm dieser Tüllschleier vor dem Gesicht, den ich erst zur Seite schieben musste. Einmal wurde es mir zu viel, und ich riss die verrutschte Maskierung am Bändchen herunter.
»Vielleicht kannst du das Ding in Zukunft weglassen, wenn wir miteinander zu tun haben? Oder bist du Michael Jackson?«
»Es ist nur wegen dem Geruch«, sagte er. »Der Schleier ist mit etwas getränkt, was den Geruch vertilgt.«
»Wonach soll es denn hier riechen?«, wunderte ich mich.
Wir saßen an der geöffneten Tür zur Dachterrasse. (Alexander vermied es, seinen Spiegelstarkasten zu verlassen, vielleicht fürchtete er Scharfschützen oder Kameras oder einen strafenden Blitz vom Himmel.) Von der Straße drang ein schwacher Benzindunst herauf, ansonsten roch ich nichts.
»Nach aller Welt«, sagte er und verzog das Gesicht.
»Zum Beispiel?«, fragte ich verwundert zurück.
Er schaute auf meine kurze weiße Bluse und atmete einmal tief durch die Nase.
»Diese Bluse zum Beispiel«, sagte er dann, »hat vor dir eine Frau in mittleren Jahren getragen, die ein selbstgemachtes Eau de Cologne aus ägyptischem Lotosextrakt benutzt hat.«
Ich schnüffelte an meiner Bluse. Sie roch nach gar nichts.
»Echt? Die hab ich im Secondhandshop gekauft, ich fand die Stickerei so hübsch.«
Er sog noch einmal Luft ein.
»Noch dazu hat sie den Extrakt mit Selbstgebranntem Wodka gestreckt. Schlechter Fusel.«
»Sag bloß!« Ich war konsterniert. »Da möchte man das Ding doch gleich ausziehen und wegschmeißen … Und was riechst du sonst noch?«