»Hab ich dir wehgetan?«
Ich nickte.
»Verzeih …«
»Du musst mir eins versprechen«, flüsterte ich. »Versprich mir, dass du mich nie mehr am Schwanz ziehen wirst. Niemals wieder, hörst du?«
»Mein Offiziersehrenwort!«, sagte er und legte die Hand an die Ordensleiste. »Ist es dir nicht gut bekommen?«
»Ich habe mich geschämt«, flüsterte ich. »Ich habe im Leben viel verzapft, woran ich nicht gern erinnert werde, weißt du. Ich habe den Menschen übel mitgespielt…«
Sein Gesicht wurde plötzlich sehr ernst.
»Hör auf!«, sagte er. »Ich bitte dich, das muss nicht sein. Nicht jetzt.«
Wir Werfüchse machen gern Jagd auf englische Aristokraten und auf Hühner. Auf englische Aristokraten machen wir deshalb Jagd, weil englische Aristokraten Jagd auf uns machen, das ist gewissermaßen eine Sache der Ehre. Hühnerjagd hingegen ist etwas fürs Herz. Jede der beiden Spielarten hat ihre glühenden Verfechter, die ihre Vorliebe auf Biegen und Brechen verteidigen. Aus meiner Sicht hat die Hühnerjagd einige gewichtige Vorzüge:
1. sorgt die Jagd auf englische Aristokraten für schlechtes Karma, das man sich durch die Tötung eines Menschen, und sei er noch so nutzlos, unweigerlich zuzieht. Von Hühnern hingegen wird das Karma nicht sehr beschwert.
2. muss man, um Jagd auf Aristokraten zu machen, nach Europa reisen (obwohl manche der Meinung sind, ein Überseedampfer eigne sich hierfür am besten). Hühnerjagd geht überall.
3. verwandeln sich Werfüchse beim Jagen englischer Aristokraten physisch überhaupt nicht. Bei der Hühnerjagd hingegen geschieht mit uns etwas, das von ferne an die Transformation der Werwölfe erinnert – wir gleichen uns vorübergehend unseren wilden Artverwandten an.
Englische Aristokraten jage ich schon seit vielen Jahren nicht mehr und bedauere dies nicht. Die Hühnerjagd hingegen ist nach wie vor meine Leidenschaft.
Einem Außenstehenden die Hühnerjagd zu erklären ist gar nicht so leicht. Wenn du, Kleider und Schuhe von dir werfend, wie wild auf drei Beinen davonpreschst und mit dem vierten das Huhn an deine Brust presst, sein kleines Herz schlägt im Gleichklang mit deinem, und das Zickzack der Wege, vom Tempo verwischt, streicht frei durch das entleerte Bewusstsein … In solchen Momenten geht dir auf, dass du und das Hühnchen, selbst auch die lärmenden Verfolger, dass ihr alle Teile eines großen, unfassbaren Ganzen seid, eines, das Masken trägt und mit sich selbst Verstecken spielt … Man würde gern glauben, dass auch das Hühnchen es begreift. Und wenn nicht, kommt irgendwann ein Leben, in dem es ganz, ganz sicher zur Erkenntnis gelangt!
Hier die Grundregeln für die Hühnerjagd:
1. Annäherung an den Hühnerstall in Gestalt eines mondänen Luxuspüppchens: Abendkleid, hohe Absätze. Der Aufputz soll die Bewegungsfähigkeit weitgehend einschränken und an Glamourmagazine denken lassen.
2. Erregung von Aufmerksamkeit bei den Hühnerstallbesitzern. Sie müssen unbedingt Augenzeuge sein, wie die vornehme Besucherin zum Hühnerklau wird.
3. Flucht vor den wütenden Verfolgern – nicht zu schnell und nicht zu langsam. Der Hauptgedanke dieser Jagd ist es, in ihnen solange wie möglich die Gewissheit zu nähren, dass die Diebin einzuholen ist.
4. Auslöschung der Erinnerung an das Vorgefallene bei den Verfolgern zu dem Zeitpunkt, da ihnen die Kräfte zur Verfolgung ausgehen (sowie in Fällen, da die vor ihren Augen sich ereignende Transformation einen Schock bewirkt) durch einen speziellen Peitschenknall des Schweifes. Freilassung des Huhns.
Den letzten Nachsatz habe ich selbst eingeführt. Fragen Sie mich nicht, was das Huhn mit dieser Freiheit anfängt. Aber man kann ihm ja wirklich schlecht den Hals umdrehen. Gut, manchmal geschieht es, dass ein Huhn während der Jagd den Geist aufgibt. Hätte es – im Sinne der Evolution – mehr davon, im Suppentopf des Philisters zu enden?
Manche von uns wenden dieselbe Logik auch auf die englischen Aristokraten an, womit ich nicht einverstanden bin. Jeder englische Aristokrat könnte theoretisch in diesem Leben zu Buddha werden, und dieser Chance darf man ihn nicht zu Vergnügungszwecken berauben.
Die Aristokratenjagd ist zu neunzig Prozent ein lästiges soziales Exerzitium, nicht sehr verschieden von einer offiziellen Teeparty. Manchmal aber geschieht es, dass sich die abgefahrensten meiner Schwestern, mit denen ich nichts zu tun haben möchte, zusammenrotten und ein Kesseltreiben veranstalten, in dessen Verlauf viele englische Aristokraten dem Tod ins Auge sehen. Das Geschehen nimmt in diesen Fällen pittoreske Formen an, der einhergehenden Halluzination können viele Tausend Menschen auf einmal erliegen – anhand der Geschichte der Titanic oder der so genannten Schlacht bei Waterloo mag man sich diesbezüglich ein Bild machen. Die schockierendsten Details bleiben dem Publikum dabei noch verborgen.
Ich kann mir vorstellen, dass es schwerfällt, solche erschreckenden Massentäuschungen für möglich zu halten, man muss dazu das Folgende wissen: Wird eine Halluzination von mehreren Werfüchsen zugleich initiiert, so steigert sich ihre Wirkung um die dritte Potenz der Anzahl der Teilnehmerinnen. Mit anderen Worten: Ein und dieselbe Suggestion, von drei Werfüchsen veranstaltet, ist fast dreißig Mal so stark, wie wenn ein einzelner Werfuchs sie produziert. Hierbei bedient man sich einer Reihe geheimer Methoden und Praktiken: Die Werfüchse lernen als Erstes, einen zuvor betrachteten Gegenstand gemeinschaftlich zu imaginieren; dann einen, den sie noch nie gesehen haben; schließlich bringen sie andere dazu, einen Gegenstand wahrzunehmen, den es überhaupt gar nicht gibt, und immer so weiter. Es ist eine komplizierte Technik, sie sich anzueignen, braucht es Jahrhunderte. Doch wenn einmal zehn, zwanzig Werfüchse zusammenkommen, die sie beherrschen … Man kann sich vorstellen, wozu sie fähig sind.
Wenn dem so ist, könnte einer einwenden, wieso regieren die Werfüchse dann nicht längst die Welt? Das hat zweierlei Gründe:
1. sind Werfüchse nicht so blöd, diese Bürde auf sich zu nehmen.
2. sind Werfüchse sehr egoistisch und darum unfähig, längerfristige Vereinbarungen mit anderen zu treffen, die über die kollektive Jagd auf englische Aristokraten hinausgehen.
Da die Menschen heutzutage über viele moderne Mittel zur Beobachtung und Überwachung verfügen, hängen sich die Werfüchse in die Menschheitsgeschichte lieber nicht mehr hinein, sondern lösen das Problem auf einfachere Art. Im Norden Englands gibt es eine Anzahl Privatschlösser, wo Aristokraten von besten Erzeugern gezüchtet und speziell für die Werfuchsjagd aufgezogen werden – die Ausbeute ist gering, die Qualität dafür hervorragend. Ähnliche Zuchtanstalten gibt es in Argentinien und Paraguay, doch sind die Bedingungen dort lausig; die in Massenproduktion, per künstlicher Besamung erzeugten englischen Aristokraten (klontechnische Versuche blieben bislang erfolglos) taugen allenfalls zur Hubschraubersafari: Sie reden wie Gauchos, saufen eimerweise Tequila, scheitern auch im dritten Versuch, ihren Stammbaum aufzuzeichnen, und wollen, dass man ihnen vor dem Tod die Che-Guevara-Hymne Un Hombre singt. Anscheinend möchten sie sich wenigstens für ein paar Minuten als Portfolio-Manager fühlen.
Es gibt eine andere Schule der Jagd. Hier ist der englische Aristokrat handverlesen, und der letzte Parcours, über den wir ihn treiben, kann sich über Jahre hinziehen: Der Werfuchs wird seine Geliebte oder Gemahlin und befindet sich bis zum bitteren Moment der Wahrheit an seiner Seite – der dann umso grausamer ist. Irgendwann während eines Gewitters oder in einem vergleichbar dramatischen Augenblick eröffnet sie ihm, wie es um ihn steht, und holt ihren Schweif hervor – nicht, um ihm die allfällige Dosis Eheglück zu verabreichen, sondern für den letzten, den tödlichen Schlag … Dies ist die schwierigste Form der Jagd, die ein virtuoses Sozialempfinden voraussetzt. Hier kann niemand unserer Schwester I Huli das Wasser reichen, die schon seit Ewigkeiten in England lebt und es in diesem Sport zu wahrer Meisterschaft gebracht hat.