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Hoffentlich der mit der Brille!, dachte ich. Der spart ganz bestimmt nicht für einen Jaguar, der hat ihn schon. Geld auszugeben ist für solche wie ihn das eigentliche Abenteuer, diese Transaktion erregt sie mehr als alles Übrige – das man sich mitunter ganz schenken kann, wenn man ihnen vorher genug zu trinken gibt. Dagegen kann so ein Sikh einem ernsthaft zur Last fallen.

Ich sandte dem Brillenträger ein Lächeln, er lächelte zurück. Na prima! dachte ich, aber da faltete der Sikh seine Finanzzeitung zusammen, stand auf und kam an meinen Tisch.

»Lisa?«, fragte er.

Das war mein Pseudonym für heute.

»That's right«, erwiderte ich freudig.

Was hätte ich anderes tun sollen.

Er setzte sich mir gegenüber und fing sogleich an, die russische Küche madig zu machen. Sein Englisch war sehr gut, nicht wie sonst bei den indischen Einwanderern üblich – echte Oxford-Intonation, die sich in ihrer Trockenheit manchmal wie ein russischer Akzent anhört. Statt fucking sagte er freaking, wie ein braver Boyscout; es klang komisch, weil er das Wort in jedem zweiten Satz gebrauchte. Vielleicht verbot ihm seine Religion das Fluchen; mir ist, als gäbe es im Sikhismus so einen Passus. Er arbeitete als Portfolio-Manager; die Frage, wo er denn sein Portfolio habe, konnte ich mir gerade noch verkneifen. Portfolio-Manager mögen solche Scherze nicht. Das weiß ich, weil ungefähr jeder dritte Kunde im National einer ist. Was nicht heißen soll, dass das National voll mit Portfolio-Managern wäre: Ich sehe nur eben sehr jung aus, und jeder Zweite von denen ist pädophil. Ich mag diese Leute nicht, das sage ich ganz ehrlich. Eine Berufserfahrung.

Zuerst kam er mir mit höchst altmodischen Komplimenten: Er könne sein Glück gar nicht fassen, und dass ich dem Mädchen seiner süßesten Kinderträume ähnlich sei – süßeste Kinderträume, so drückte er sich aus. Noch mehr in dieser Art. Als Nächstes wollte er meinen Ausweis sehen, um sich von meiner Volljährigkeit zu überzeugen. An derlei Nachfragen war ich gewöhnt. Ich besaß einen Pass, natürlich gefälscht, der auf den Namen Alisa Li ausgestellt war. Den hatte ich mir selbst ausgedacht – einerseits Li: ein in Korea weitverbreiteter Name, der zu meinem asiatisch anmutenden Lärvchen passte; andererseits die Füchsin Alisa im Goldenen Schlüsselchen … Der Sikh blätterte sehr ausführlich, wahrscheinlich fürchtete er um seinen guten Ruf. Dem Pass nach war ich neunzehn.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er.

»Schon bestellt«, antwortete ich. »Kommt gleich. Sagen Sie das eigentlich zu allen Mädchen – das mit den süßesten Kinderträumen, meine ich?«

»Nein. Das sage ich nur zu Ihnen. Das habe ich noch zu keinem Mädchen gesagt.«

»Ah ja. Dann sage ich Ihnen auch etwas, das ich noch zu keinem anderen Mann gesagt habe. Sie sehen aus wie Captain Nemo.«

»Der aus Zwanzigtausend Meilen unterm Meer?«

Oho, ein belesener Portfolio-Manager!, dachte ich.

»Nein, aus der Liga der außergewöhnlichen Gentlemen. Das war ein amerikanischer Film, da gab es einen außergewöhnlichen Gentleman, der sah Ihnen ähnlich. Unterwasserkaratekämpfer mit Bart und blauem Turban.«

»Eine Jules-Verne-Verfilmung, oder wie?«

Der Cocktail kam. Kleinformat – sechzig Gramm, höchstens.

»Nein, eine Versammlung aller Supermänner des zwanzigsten Jahrhunderts in einem: Captain Nemo, The Invisible Man, Dorian Gray und so weiter.«

»Ach ja? Klingt originell!«

»Ist überhaupt nicht originell. Eine auf Vermittlung basierende Ökonomie gebiert eine Kultur, die es vorzieht, vorhandene Bilder fremder Urheber weiterzuverkaufen, statt neue zu kreieren.«

Diesen Satz hatte ich von einem linken französischen Filmkritiker, der mich um dreihundertfünfzig Euro beschissen hatte. Nicht dass ich ganz mit ihm einer Meinung gewesen wäre, doch jedes Mal, wenn ich den Satz im Gespräch mit einem Kunden anbrachte, kam es mir vor, als arbeitete der Filmkritiker ein paar konvertierbare Rubel von seiner Schuld ab. Für den Sikh war das zu viel.

»Wie bitte?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Na, jedenfalls sah dieser Nemo Ihnen erstaunlich ähnlich. Der Bart vor allem … Noch in seinem U-Boot hat er die Göttin Kali angebetet.«

»Dann dürften wir kaum viel gemeinsam haben«, lächelte mein Gegenüber. »Ich bete zu keiner Göttin Kali. Ich bin Sikh.«

»Ich habe großen Respekt vor dem Sikhismus«, sagte ich. »Mir scheint, er ist eine der vollkommensten Religionen auf der Welt.«

»Wissen Sie denn überhaupt, was das ist?«

»Aber ja.«

»Wahrscheinlich haben Sie gehört, das seien so Typen, die Bart und Turban tragen«, lachte er.

»Nicht die äußeren Attribute sind es, die mich am Sikhismus interessieren. Mich fasziniert die spirituelle Seite. Insbesondere der Mut, sich auf die Schrift anstatt auf lebendige Lehrmeister zu berufen.«

»Aber das trifft auf viele andere Religionen genauso zu«, sagte er. »Woanders ist es die Bibel oder der Koran, bei uns der Guru Granth Sahib.«

»Aber nirgends nimmt man das Buch so als lebendigen Mentor. Außerdem gibt es nirgends ein so revolutionäres Gotteskonzept. Zwei Eigenarten sind es vor allem, die mich verblüffen, weil sie sich von allen anderen Religionen radikal abheben.«

»Und zwar?«

»Erstens wird die Tatsache akzeptiert, dass Gott diese Welt durchaus nicht zu irgendwelchen höheren Zwecken, sondern einzig und allein zu seiner Erbauung geschaffen hat. Das zu sagen hat sich vor den Sikhs noch keiner getraut. Und zweitens sind die Sikhs Gottfinder, nicht Gottsucher wie die anderen.«

»Gottsucher, Gottfinder, was soll das sein?«

»Erinnern Sie sich an die Aporie von der öffentlichen Hinrichtung, die in den Kommentaren zu den heiligen Texten des Sikhismus des Öfteren angeführt ist? Sie geht, wenn ich nicht irre, auf den Guru Nanaku zurück, ganz sicher bin ich mir nicht.«

Dem Sikh quollen die braunen Augen hervor, sodass er nun aussah wie ein Krebs.

»Stellen Sie sich einen Marktplatz vor«, fuhr ich fort. »In seiner Mitte das Schafott, wo dem Verbrecher der Kopf abgeschlagen werden soll, die Menge drängt sich darum herum. Ein gewöhnliches Bild im mittelalterlichen Indien. Nicht anders in Russland. Nun passen Sie auf: Gottsuchertum ist, wenn die besten Köpfe der Nation das Blut an dem Beil nicht mehr mit ansehen können und deswegen anfangen, Gott zu suchen, was hundert Jahre und sechzig Millionen Tote später dazu führt, dass sich die Kreditfähigkeit des Landes um ein Geringes erhöht.«

»In der Tat«, sagte der Sikh, »das ist eine große Leistung, die Ihr Land da vollbracht hat. Ich meine, die verbesserte Kreditfähigkeit. Und was tun nun die Gottfinder?«

»Sie haben ihren Gott noch auf dem Richtplatz gefunden. So wie die Lehrer der Sikh.«

»Welchen Gott meinen Sie?«

»Gott ist in dieser Aporie sowohl der Scharfrichter, als auch sein Opfer, und damit nicht genug. Er ist die Menge rund um das Schafott, er ist das Schafott selbst, er ist das Beil, er ist das Blut, das von dem Beil trieft, er ist der Marktplatz und der Himmel über ihm und der Staub unter den Füßen. Und natürlich ist er diese Aporie, und was die Hauptsache ist: Er ist der, der sie im Augenblick vernimmt …«

Ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff Aporie hier am Platz war, denn ein unauflösbarer Widerspruch kam nicht vor – wenn man ihn nicht darin sehen wollte, Gott inmitten von Blut und Schrecken zu finden. Jedenfalls rief der Terminus bei dem Sikh keinen Widerspruch hervor. Er riss die Augen noch etwas weiter auf und sah nun nicht bloß wie ein Krebs aus, sondern wie ein Krebs, der endlich begriffen hat, warum die vielen großen Biergläser um ihn herumstehen. Während er an meinen Worten kaute, trank ich in aller Ruhe meinen Cocktail aus – was dieser Drambuie für ein Zeug war, wurde mir dabei nicht klarer. Der Sikh war ein Anblick für die Götter, das muss man sagen. Er balancierte sozusagen auf dem Grat zur Erleuchtung, ein leichter Schubs mochte genügen, um seinen Verstand aus dem fragilen Gleichgewicht zu bringen.