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Der größte Vorzug der Hühnerjagd besteht in der supraphysikalischen Transformation, die wir dabei vollziehen. Das Huhn muss als lebender Katalysator assistieren: Die Jahrtausende Leben in Kultur haben uns Werfüchse dieser Gabe fast gänzlich beraubt, wie Dante brauchen wir beim Trip in die Unterwelt einen, der vorausgeht. Die Transformation gelingt nicht immer und nie für längere Zeit, doch der Kick dabei ist so gewaltig, dass man noch viele Tage von der Erinnerung zehrt.

Etwas Vergleichbares widerfährt uns manchmal auch bei heftigem Erschrecken, doch das lässt sich nicht kontrollieren. Die Kunst der Hühnerjagd besteht aber gerade darin, die eigene Angst zu dosieren und in Schach zu halten. Man muss die Verfolger nahe genug heranlassen, damit die Mechanismen der inneren Alchimie anspringen, die für Sekunden ein Raubtier aus dir machen, das Gut und Böse nicht kennt. Natürlich muss man, um Gut und Böse nicht gänzlich außer Kraft zu setzen, einen Sicherheitsabstand wahren. All dies zusammen ist beinahe wie Windsurfen, nur dass man für den Verlust der Balance hier einen ungleich höheren Preis zu zahlen hat. Dafür sind aber auch die positiven Emotionen weitaus stärker – es gibt nichts Herzerfrischenderes als Hatz und Risiko.

Manchmal kommt es vor, dass sich mir Hunde an die Fersen hängen, doch sie lassen ab von mir, sobald sie merken, wer ich bin. Hunde lassen sich ebenso leicht etwas vormachen wie Menschen. Außerdem haben sie ein besonderes Nachrichtennetzwerk, eine Art Geruchsinternet, könnte man sagen: Gibt es etwas Neues, sind die anderen beinahe sofort im Bilde. Seit jenem Tag, als ein mutiger Rottweiler, der mit mir hatte spielen wollen, von zwei kaukasischen Brüdern (pardon, Schäferhunde sind gemeint) vergewaltigt wurde, machten die Hunde im Wald von Bitza einen Bogen um mich. Sie sind kluge Tiere und können die Zusammenhänge nachvollziehen, wenn erst ein Rottweiler sich knurrend auf eine aparte rothaarige Joggerin stürzt und alle Rüden, die zwei Köpfe größer als dieser Rottweiler sind, ihn plötzlich für eine zärtliche, großäugige, oberläufige Hündin halten.

Der Entschluss, Alexander mit auf die Jagd zu nehmen, hatte nichts mit Prahlsucht zu tun. Die Transformation eines Werfuchses während der Hühnerjagd bleibt zurück hinter dem, was einem Werwolf widerfährt. Kein Grund, sich damit zu brüsten. Doch ich dachte, wenn der supraphysikalische Schub vor Alexanders Augen geschah, war das die beste Art, ihm zu sagen: Du und ich, wir sind vom selben Blut. Vielleicht, dass das die Reste von Misstrauen zwischen uns zum Schmelzen brachte und für weitere Annäherung sorgte – so mein vages Kalkül.

Den Ort, an dem die Jagd stattfinden sollte, hatte ich schon vor längerem ausgeguckt. Einer der Wege, die sich durch den Bitza-Park schlängelten, stieß auf ein am Waldrand stehendes Holzhaus, in dem der Forsthüter wohnte. (Ob diese Bezeichnung ganz zutreffend ist, weiß ich nicht, jedenfalls band den Mann irgendeine Dienstpflicht an diesen Park.) Neben dem Haus gab es einen Hühnerstall, was in Moskau heutzutage eine große Seltenheit ist. Ich hatte ihn irgendwann bei einem Fahrradausflug entdeckt; nun beschloss ich meine Entdeckung zu nutzen. Zuvor aber musste ich die Situation dort noch einmal prüfen und die Rückzugswege abstecken. Ich nahm mir einen ganzen Tag Zeit für eine Erkundungstour per Fahrrad und gelangte zu folgenden Erkenntnissen:

1. Es gab Hühner im Stall und Leute im Haus; die wesentlichen zwei Komponenten für die Aktion waren also vorhanden.

2. Die Flucht hatte über einen in den Wald führenden Weg zu erfolgen.

3. Die Verfolger mussten abgeschüttelt sein, bevor dieser Weg auf der anderen Seite wieder aus dem Wald herausführte – am jenseitigen Waldrand gab es viele Spaziergänger, meist junge Mütter mit Kinderwagen.

Ferner entdeckte ich, wie man mit dem Auto fast ganz bis an den Hühnerstall herankam. Das Forsthäuschen schien nur auf den ersten Blick im Wald versteckt zu liegen, schon dreihundert Meter dahinter fing die Stadt an: eine Reihe sechsstöckiger Plattenbauten, hart an der Waldgrenze. Die Adresse des dem Hühnerstall nächstgelegenen Hauses hatte ich notiert. Alles war bereit, die Jagd konnte beginnen.

Und noch ein weiteres Ergebnis hatte die Erkundungstour gebracht. Ich war auf dem Rückweg eine unbekannte Route gefahren und an einen erstaunlichen Ort geraten, wo ich nie zuvor gewesen war. Es handelte sich um eine größere Brachfläche, beinahe ein Feld; nach der einen Seite, zu einem kleinen Wasserlauf hin abschüssig; allseits von Wald umgeben. Über die Fläche liefen mehrere kleine Pfade, und an der Hangseite zum Flüsschen hin befand sich eine Sprungrampe für Biker: eine steile Erdaufschüttung, die von vielen Reifen zerfahren war. Ich traute mich nicht zu springen, fuhr nur vorsichtig bis an den Rand und stellte mir vor, wie es war, hier mit Karacho runterzudüsen und durch die Luft zu fliegen. An eine glückliche Landung konnte ich für mich nicht recht glauben.

Unweit der Rampe fand sich eine sonderbare Skulpturengruppe. Mehrere graue Holzbalken verschiedener Länge waren in die Erde gegraben, die geglätteten oberen Enden trugen die Gesichter von Kriegern. Die Holzsoldaten standen dicht beieinander, um sie herum zog sich ein Kreis aus grob und stabil gezimmerten Sitzbänken, unterbrochen von vier nach Norden, Westen, Süden und Osten ausgerichteten Toren: zwei Balken längs, einer quer darüber, ebenso grob, grau und rissig. Das Ganze wirkte wie ein hölzernes Stonehenge, verschlissen im Kampf gegen die Ewigkeit; etliche Balken waren angekokelt von den Lagerfeuern, die die Cliquen aus dem Umkreis anscheinend mittendrin errichteten. Doch ungeachtet der Brandstellen und der vielen leeren Bierflaschen war dem Objekt ein Anflug von Schönheit eigen, wohl gar von Größe und Erhabenheit.

Ich setzte mich auf einen der Balken, starrte auf den roten Sonnenball (solche Sonnenuntergänge gibt es in Moskau nur im Monat Mai) und driftete mit den Gedanken in die Vergangenheit. Ich musste an einen Menschen denken, die Begegnung mit ihm lag mehr als tausend Jahre zurück: Man nannte ihn den Gelben Herrn, weil sein Kloster auf dem Gelben Berg stand. Nur eine Nacht lang währte damals unser Gespräch, doch es blieb mir in Erinnerung – ich musste nur die Augen schließen, schon sah ich das Gesicht des Gelben Herrn zum Greifen nah und deutlich vor mir. Und wie vielen Menschen war ich seither begegnet, tagein, tagaus – nicht der Schatten von ihnen hatte sich im Gedächtnis erhalten … Auch Schwesterlein I hatte den Gelben Herrn gekannt, fiel mir ein.

Ob sie sich gut an ihn erinnerte? Ich musste sie danach fragen.

In dem Moment klingelte mein Handy.

»Hallo?«

»Grüß dich, Rotschwänzchen.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»I, Schwesterlein? Das ist ja nicht zu fassen! Gerade eben habe ich an dich gedacht …«

»Davon hat mir der Schweif gejuckt!«, lachte sie. »Ich bin in Moskau.«

»Wo bist du abgestiegen?«

»Im Hotel National. Hast du morgen um eins schon was vor?«

Ich befürchtete, am Einlass vom National Probleme zu bekommen, doch keiner der Typen von der Security beachtete mich. Vielleicht lag es daran, dass ein Fräulein von der Rezeption, das wie eine SS-Scharführerin aussah, mit dem Schild Valued Guest of Lady Cricket-Taylor auf mich wartete; sie geleitete mich zu einem der Luxus-Appartements. Fehlte nur noch Ehrenwache und Orchester.

Bei meinem Eintreten saß I Huli auf dem gestreiften Diwan des Wohnzimmers. Mir kam der quälende Verdacht, in diesem Zimmer schon mal mit einem Kunden zugange gewesen zu sein, Geschäftsmann aus Südkorea vielleicht oder arabischer Waffenhändler. Es konnte aber auch an dem gestreiften Diwan liegen, solche gab es hier in vielen Zimmern. Als die Schwester mich erblickte, sprang sie auf, und wir umarmten uns zärtlich. Plötzlich hielt sie eine Plastiktüte in den Händen.