»Das ist für dich«, sagte sie. »Erlesen, wenn auch nicht teuer.«
In der Tüte steckte ein T-Shirt mit Union Jack und dem zweisprachigen Aufdruck
КОКНИ
COCKNEY
»Das kriegt man in London zu kaufen«, sagte sie. »In allen Sprachen. Aber auf Russisch kommt es besonders nett.7«
Sie kicherte. Ich konnte nicht an mich halten und lachte mit.
I Huli sah noch ganz genauso aus wie anno neunundzwanzig, als sie aufgrund von Kontakten zur Komintern, die damals in Mode war, öfters nach Russland kam. Höchstens der Haarschnitt schien noch ein wenig kürzer. Gekleidet war sie wie immer unnachahmlich.
In den letzten tausend Jahren war I Hulis Stil unverändert geblieben: extrem radikal in der Sache, utilitär-minimalistisch an der Oberfläche. Ich beneidete sie um ihren kühnen Geschmack – immer war sie der Mode um einen halben Schritt voraus. Mode hat ihre Zyklen, und im Laufe der Jahrhunderte entwickelte Schwesterlein I sich zur professionellen Wellenreiterin, die auf den Höhen dieser Zyklen dahinsegelte; immer wieder brachte sie das Wunder zustande, just an dem Punkt zu sein, dessen Koordinaten die Modemacher gerade vorauszusehen bemüht waren.
Diesmal trug sie eine frappierende Weste, die aussah wie ein überdimensionaler Patronengürtel – mit einer Vielzahl aufgesetzter bunter Taschen, gestickten arabischen Schnörkeln und der Aufschrift Ka-Boom! in Orange. Eine Variation auf das Thema Sprengstoffgürtel – wie ihn ein libertinärer japanischer Modegestalter entworfen hätte. Zugleich war das Ding überaus praktisch: Wer eine solche Weste hatte, brauchte bestimmt keine Tasche mit sich herumzutragen.
»Ist das für London nicht ein bisschen kühn?«, fragte ich. »Ich meine, hat sich noch keiner darüber empört?«
»Bewahre! Der Engländer verwendet all seine Geisteskraft auf die Scheinheiligkeit. Für Intoleranz bleibt da nicht viel.«
»Ist es wirklich derart finster?«
Sie winkte ab.
»Das englische Wort für Heuchelei ist hypocrisy. Ich wäre dafür, einen neuen Begriff einzuführen: hippopocrisy – von Hippopotamus. Um den Maßstäben des Problems gerecht zu werden.«
Ich kann es nicht leiden, wenn man ganze Nationen schlechtmacht. Das tun meiner Meinung nach nur Loser oder Leute, die ein schlechtes Gewissen haben. Einen Loser konnte man Schwesterlein I wahrlich nicht nennen. Aber was das Gewissen anbetraf …
»Warum gehst du nicht mit gutem Beispiel voran und lässt das Heucheln sein?«, fragte ich.
»Das wäre blanker Zynismus. Fragt sich, was schlimmer wäre. Jedenfalls ist es in der Kammer dunkel und feucht.«
»Was denn für eine Kammer?«
»Ich meine die englische Seele. Sie erinnert mich an eine Abstellkammer. Oder wie soll man das genauer übersetzen: closet? Die besten Engländer versuchen ihr Leben lang da herauszukommen, aber es gelingt ihnen für gewöhnlich erst in der Stunde ihres Todes.«
»Woher willst du das wissen?«
»Wie woher? Das ist die Innensicht. Ich bin doch selber Engländerin. Nicht so ganz natürlich – ungefähr so, wie du Russin bist. Das kann man doch sagen, oder?«
»Vermutlich schon«, erklärte ich mich mit leisem Seufzen einverstanden.
»Und womit lässt sich die russische Seele vergleichen?«
Ich dachte nach.
»Mit dem Fahrerhaus von einem Truck. Der Trucker hat dich reingeholt, damit du ihm einen bläst. Dann ist er gestorben, und du bist allein da drin. Ringsum endlose Steppe, Himmel, die Straße. Und du hast keinen Führerschein.«
»Und der Fahrer liegt noch drin, oder wie?«
Ich zuckte die Achseln.
»Je nachdem.«
»Tja«, sagte I Huli. »Anscheinend auch nicht viel anders.«
»Anders als was?« Ich verstand nicht.
»Bei uns existiert ein Sprichwort: Everybody has his skeleton in the closet. Das hat Lord Byron gesagt. Als er mitbekam, dass er den Homosexuellen in sich abgewürgt hatte.«
»Der Ärmste.«
»Der Ärmste, was soll das heißen?« I Huli hob die Augenbrauen. »Du hast ja keine Ahnung. Er hat diesen Homosexuellen in sich zeit seines Lebens gepiesackt und gefoltert, erwürgt hat er ihn erst ganz zuletzt, als er merkte, dass er selber bald den Löffel abgibt. Und alle seine Gedichte und Poeme, stellt sich raus, hat gar nicht er geschrieben, sondern dieser Homosexuelle in ihm. Das haben zwei amerikanische Gelehrte nachgewiesen, ich hab es selbst gelesen. So sind die Leute in England! Dann schon lieber den Downer in euerm Fahrerhaus.«
»Wieso Downer? Ich finde, es hat was.«
»Was denn? Das Gerippe auf dem Fahrersitz?«
»Nein. Die russische Seele. Stell dir vor, du kannst nicht Auto fahren, und ringsum nichts als Steppe und Himmel. Ich liebe Russland.«
»Und was genau ist es, was du daran liebst?«
Über diese Frage musste ich eine Weile nachdenken.
»Die russische Sprache«, antwortete ich schließlich zögernd.
»Ist schon in Ordnung«, sagte I Huli, »dass du dir das einredest. Sonst wäre es für dich unerträglich, hier zu leben. Wie für mich in England.«
Sie räkelte sich katzenhaft, ihr Blick verlor sich in der Ferne, darin etwas träge Verträumtes. Plötzlich aber, für den Bruchteil einer Sekunde, sah ich dort, wo ihr Gesicht war, einen scharfzahnigen Raubtierrachen – so wie auf dem berühmten fünfundzwanzigsten Filmbild. Ich bekam Lust, ihr eine kleine Bissigkeit hinzuwerfen.
»Ich finde, das ist Selbstsuggestion: dass du glaubst, unter Heuchlern und Unmenschen zu leben.«
»Ach so? Wozu sollte ich mir das denn selber suggerieren?«, fragte sie.
»Man sagt, keiner wäre zu einem Mord fähig, ohne seinem Opfer zuvor irgendeine miese Eigenschaft angedichtet zu haben. Sonst plagt ihn das Gewissen. Wenn man aber nun am Fließband mordet, ist es praktischer, diese Eigenschaften gleich auf die ganze Zielgruppe zu übertragen. Dann fürchtet man sich weniger vor der Vergeltung.«
Ein Schatten strich über I Hulis Gesicht.
»Kommst du mir jetzt mit Moral?«, fragte sie. »Selbst unter den Menschen trifft man hie und da die Erkenntnis an, dass Gut und Böse in der Wirklichkeit nicht vorkommen. Und wir beide sind Werfüchse. Weder Vergeltung für Untaten, noch Belohnung für Wohltaten stehen nach dem Tod ins Haus, ausnahmslos alle nehmen denselben Weg zurück zur Gelben Quelle, wo die große Grenze ist. Der Rest ist Erfindung, um das Volk am Gängelband zu halten und in Angst. Wovon redest du?«
Ich sah ein, dass mein Benehmen idiotisch war. Wozu die Schwester in Rage bringen, wenn ich mich doch mit ihr beratschlagen wollte? Gerade ich muss ihr Vorwürfe machen, ich bin doch um kein Jota besser!, dachte ich. Und falls ich mich tatsächlich für etwas Besseres hielt, so hieß das nur, dass ich noch schlimmer war. Ich musste das Ganze schleunigst ins Lächerliche ziehen.
»He, was sind wir verbissen!«, sagte ich in schalkhaftem Ton. »Das macht die langjährige Lebensgemeinschaft mit den schwanzlosen Affen. Du argumentierst schon genau wie sie.«
I Huli blickte mich ein paar Sekunden argwöhnisch an, schob die buschigen Brauen zusammen. Das stand ihr sehr gut. Dann lächelte sie. »Aha, du willst mich also auf den Arm nehmen? Na warte, dreh du mir den Rücken zu …«
Bei den Werfüchsen hat diese Aussage etwas andere Untertöne als beim Menschen, doch sie bedeutet ungefähr das Gleiche. Ich hatte gewiss nicht vor, ihr den Rücken zuzudrehen, zumal eine wie sie es wirklich fertig brachte, dich am Schweif zu ziehen – im fünfzehnten Jahrhundert war das schon einmal vorgekommen, und ich weiß es noch wie heute. Aber ihr Satz brachte mir unverhofft mein letztes Rendezvous mit Alexander in Erinnerung. Ich wurde rot. Was I Huli nicht verborgen blieb.