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Ich seufzte nur. Es war einfach unbegreiflich, wie diese I Huli, die in manchen Dingen so scharfsinnig war, sich in anderen wiederum so dumpf und traumwandlerisch verhalten konnte. Wie oft sollte ich es ihr noch erklären? Ich beschloss, keinen Streit anzufangen. Stattdessen fragte ich: »Du glaubst wohl, mein Alexander könnte der Überwerwolf sein?«

»Wenn ich es recht verstehe, ist das Überwertier kein einfacher Wolf. Es ist vom Wolf genauso weit entfernt wie ein Werfuchs. Aber es ist auch kein Mittelding zwischen Werwolf und Werfuchs. Es geht weit über den Wolf hinaus.«

»Das ist mir unklar«, sagte ich. »Über den Wolf hinaus, was soll das heißen?«

»Ich kann es dir nicht schlüssig erklären, weißt du. Mein armer Brian hat alles irgendwie greifbare Material zu diesem Thema gesammelt. Wenn du möchtest, kann er dir einen kleinen Vortrag halten, solange er noch am Leben ist. Morgen tagsüber hätten wir zufällig ein bisschen freie Zeit. Du könntest deinen Alexander mitbringen – den dürfte das doch auch interessieren, denke ich mir. Und es wäre die Gelegenheit, ihn mir vorzuführen.«

»Das wäre prima«, sagte ich. »Aber Alexander spricht ein lausiges Englisch.«

»Macht nichts. Brian ist Polyglott, er spricht fließend fünf Sprachen. Zum Beispiel auch Russisch.«

»Gut«, sagte ich. »Dann lass es uns probieren.«

»Und dafür tut dein Generalleutnant uns auch einen Gefallen«, fügte I Huli mit erhobenem Zeigefinger an.

»Nämlich?«

»Brian und ich, wir hätten gern einmal nachts Zugang zur Christus-Erlöser-Kathedrale. Es müsste aber die Nacht von Freitag auf Samstag sein. Weil da Vollmond ist. Ob er das arrangieren könnte?«

»Vermutlich schon«, sagte ich. »Die nötigen Kontakte dürfte er haben. Ich versuch mit ihm zu reden.«

»Fein. Ich komme darauf zurück«, sagte I Huli.

So war es mit ihr immer. Sie spannte einen in ihre Angelegenheiten ein und vermittelte noch dazu das Gefühl, als würde man dadurch geadelt. Andererseits brannte ich darauf, Lord Cricket kennen zu lernen, den Okkultisten, Mäzen der schönen Künste und passionierten Fuchsjäger.

»Sag mal, hat dein Mann eigentlich eine Ahnung?«, fragte ich. »Ich meine, was dich betrifft?«

»Nein. Wie stellst du dir das vor? Es gibt doch Jagdvorschriften. Er darf erst im allerletzten Moment davon erfahren.«

»Und wie schaffst du es, dich die ganze Zeit nicht zu outen?«

»Ach, die Gepflogenheiten der englischen Lebenswelt kommen einem da sehr entgegen. Getrennte Schlafzimmer, das viktorianische Grausen vor dem nackten Körper, das steife Zubettgehritual. In diesen aristokratischen Kreisen genügt es, eine bestimmte Ordnung einzuführen und an ihr festzuhalten. Schwieriger ist was anderes: den großen Showdown immer wieder rauszuschieben. Dafür muss man innerlich stark sein.«

»Deine Ausdauer ist wirklich bewundernswert.« »Brian ist mein Moby Dick«, sagte I Huli und lachte. »Obwohl sein dick nicht gerade moby ist, ha-ha …«

»Wie lange jagst du ihn schon?«, fragte ich. »Fünf Jahre doch mindestens?«

»Sechs.«

»Und wann planst du …«

»In den nächsten Tagen.«

Vor Überraschung zuckte ich zusammen.

»Deswegen sind wir hier«, flüsterte sie, mich um die Schulter fassend.

»Und wieso ausgerechnet in Moskau?«

»Hier ist es weniger gefährlich. Außerdem könnte die Situation günstiger kaum sein. Brian kennt nicht nur die Voraussagen, nach denen das Überwertier hier auftauchen soll. Er träumt davon, diese Rolle selbst zu übernehmen. Aus irgendeinem Grund glaubt er, man müsste dafür in dem abgerissenen und wiederaufgebauten Tempel eine Art schwarze Messe abhalten, so wie er es aus seiner dämlichen Loge kennt. Alles muss ganz im Geheimen ablaufen, ohne Zeugen. Ich als Einzige werde assistieren, weil ich die nötige Weihe besitze.«

»Wie das?«

»Er hat mich extra initiiert.«

Ein Punkt an der Sache irritierte mich besonders.

»Aber, sag mal … Glaubst du denn nicht selber an das Überwertier?«

»In welchem Sinne?«

»Na, dass es eines Tages kommt und leibhaftig vor uns hintritt und so – wie du es in dem Brief geschrieben hast?«

»Ich habe nicht geschrieben, dass ich daran glaube. Ich habe geschrieben, dass Brian es so sieht. Mich lässt diese ganze Mystik kalt. Ob dieses Superwesen kommt oder nicht, ist mir völlig egal. Aber ich wüsste keine bessre Gelegenheit, um mein Ding« – sie schnipste mit den Fingern, damit ich verstand, welches – »durchzuziehen.«

»Was bist du für ein gerissenes Luder!«

I Huli antwortete mit einem bezaubernden Lächeln.

Erst jetzt hatte ich begriffen, was sie plante. Es war eine Offenbarung: wie wenn ein Schachanfänger plötzlich hinter die Partie eines genialen Spielers steigt. Der Showdown versprach dramatisch und theatralisch zu werden, so wie es die Regeln erforderten. Ein besser geeignetes Interieur für den Gnadenstoß als eine Kathedrale zur Nacht konnte man sich schwerlich vorstellen. Und noch dazu war von Beginn an für eine Legende gesorgt, die den bizarren Vorgang überzeugend erklären konnte, ja, im Grunde war es gar keine Legende, sondern die reine Wahrheit, an die der Ausrichter des Spektakels so fest glaubte wie vor einer Minute noch ich. Da war nichts, was die Kriminalpolizei auf den Plan rufen konnte.

Elegant und gediegen das Ganze, ohne die geringste Unglaubwürdigkeit. Ein Meisterwerk der Planung. Auch wenn ich dieser Sportart selbstverständlich nichts abgewinnen konnte, musste ich der Schwester Anerkennung zollen. Und zweifellos war I Huli die weitbeste Jägerin, keine Kontrahentin konnte ihr das Wasser reichen. Ich räusperte mich respektvoll.

»Steht schon fest, wer der Nächste sein wird?«

»Ach, man schaut sich um … Es gibt schon ein paar fabelhafte Ideen, ganz überraschende darunter.«

»Zum Beispiel?«

I Huli blinzelte und hob mit kristallklarem Stimmchen zu singen an: »Don't question why she needs to be so free …«

»Mick Jagger?«, ächzte ich. »Wie kannst du an so was auch nur zu denken wagen!«

»Wieso nicht?«, entgegnete sie ungerührt. »Er ist doch neuerdings Sir Mick. Legitimate target. Und sag bloß, dich rührt diese Zeile immer noch an? Ich finde, es klingt längst nach Flugzeugträgerreklame für die Royal Navy.«

Lord Cricket war ein Mann von unbestimmtem Alter. Und Geschlecht, mochte man der Genauigkeit halber hinzufügen. Schwesterlein I zufolge entstammte er einer Sippe angestammter Militärs, was sein Äußeres jedoch überhaupt nicht erkennen ließ. »War hero or shero« war das Erste, was mir bei seinem Anblick einfiel, trotz Kahlkopf und Goateebärtchen. Und sein Gesichtsausdruck sprach Bände: Man meinte zu sehen, wie er als Jugendlicher nach Licht und Freiheit gestrebt hatte, um dann, gescheitert bei dem Versuch, den Panzer aus Pflichtgefühl und Selbstbeherrschung zu durchbrechen, zur personifizierten Sprechblase mit Fragezeichen zu erstarren. Verdruss und Befremden, zur Grimasse geballt.

Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit breiter, zartgrün schillernder Krawatte. Am Aufschlag seines Jacketts blitzte ein kleiner runder Sticker: Es hätte das Mao-Emailleabzeichen sein können, das zu tragen in China einmal Vorschrift gewesen war, doch statt Mao grinste einen Aleister Crowley an. (Die Auskunft kam von I Huli, ich hätte den britischen Obersatanisten gewiss nicht erkannt.)

Alexander und Lord Cricket begegneten einander mit gespannter Aufmerksamkeit. Beim Anblick der Uniform lächelte der Lord. Ein Lächeln von erstaunlicher Art: mit einer winzigen Spur Ironie darin, die sich doch beim besten Willen nicht übersehen ließ. Über Jahrhunderte musste dieser Rasen gestutzt und gepflegt worden sein … Alexander schniefte nervös, als er den Lord erblickte, seine Augen verengten sich, und ein Schatten glitt ihm übers Gesicht, wie die Erinnerung an etwas Unangenehmes.