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Anfangs fürchtete ich, die beiden könnten sich anstänkern. Doch sehr bald entwickelte sich zwischen ihnen ein Smalltalk über den Nahen Osten, den schiitischen Terrorismus und das Ölgeschäft. Ich muss ein bisschen verbiestert dreingeschaut haben, denn Lord Cricket stellte mir die klassische Frage: »Warum lächelt ihr Russen so wenig?«

»Weil es nicht lohnt. Wir müssen uns um unsere Konkurrenzfähigkeit keine Sorgen machen«, erwiderte ich grimmig. »Wo wir doch die geborene Loser-Nation sind.«

Eine Braue von Lord Cricket schnellte nach oben.

»Jetzt übertreiben sie aber!«, sagte er.

Trotzdem schien meine Antwort ihn befriedigt zu haben, er wandte sich wieder Alexander zu, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen.

Ich vergewisserte mich, dass sie bei belanglosen Themen blieben, und kümmerte mich als Nächstes um den Videoprojektor, den wir extra im Business-Center unseres Viertels entliehen hatten. Eine esoterische PowerPoint-Präsentation mochte etwas Skurriles an sich haben, doch war die menschliche Esoterik im Ganzen längst derart profaniert, dass kein Microsoft ihr noch etwas anhaben konnte.

Während wir die Technik zum Laufen brachten, gab ich wieder einmal der Versuchung nach, Schwesterlein I ein paar moralische Grundsätze einimpfen zu wollen.

»Du kannst dir nicht vorstellen«, fing ich schnell und leise zu reden an, um in den wenigen zur Verfügung stehenden Sekunden so viel wie möglich nützliche Informationen unterzubringen, »welch entlastende Wirkung Kants kategorischer Imperativ für die Seele hat. Mir sind geradezu Flügel gewachsen, als ich begriff – jaja, lach du nur -, dass der Mensch für uns nicht immer nur Mittel zum Zweck sein muss. Er kann auch das Ziel sein!«

I Huli verzog das Gesicht.

»Stimmt!«, konterte sie dann. »Wenn ich mit Brian fertig bin, fliege ich nach Argentinien auf Safari. Ich wollte schon immer mal vom Hubschrauber runterballern!«

Was sollte man dazu noch sagen!

Es gelang uns lange nicht, Beamer und Notebook zusammenzukoppeln, das Bluetooth-System wollte nicht funktionieren, ich hatte es nie zuvor ausprobiert. Eine Zeit lang war ich von diesem Technikkram in Anspruch genommen und achtete nicht mehr darauf, was im Raum vor sich ging. Als wir das Problem schließlich gelöst hatten, waren Lord Cricket und Alexander schon mitten in einer Wertediskussion.

»Glauben Sie wirklich«, fragte der Lord, »es könnte eine bessere Gesellschaftsordnung geben als die liberale Demokratie?«

»Die Liberalen können uns gestohlen bleiben! Zehn Jahre haben wir uns mit ihnen abgequält. Wir haben uns gerade erst ein bisschen erholt davon.«

Ich sah, dass es höchste Zeit war einzuschreiten.

»Entschuldigt«, sagte ich, Alexander hinter dem Rücken des Lords die Faust zeigend, »zwischen euch besteht offenbar ein Missverständnis. Ein rein linguistisches, wie mir scheint.«

»Wieso?«, fragte Lord Cricket.

»Es gibt eine ganze Reihe von Lautverbindungen, die in verschiedenen Sprachen sehr unterschiedliche Dinge bedeuten. Nehmen wir nur das Wort Bog: Im Russischen ist es Gott, im Englischen ein Sumpf. God wiederum, was der liebe Gott im Englischen ist, meint im Russischen einfach nur das Kalenderjahr. Dem Klang nach identisch, der Sinn könnte unterschiedlicher nicht sein. Dasselbe hat man bei Familiennamen, da ergeben sich manchmal witzige Verquickungen. Und genauso verhält es sich mit dem Wort liberal. Ein klassisches sprachübergreifendes Homonym. Bezeichnet es, sagen wir, in Amerika jemanden, der für strengere Waffengesetze, gleichgeschlechtliche Ehen und Abtreibung eintritt und den Armen insgesamt mehr Mitgefühl entgegenbringt als den Reichen, so ist ein Liberaler bei uns …«

»… ein gewissenloser kleiner Wadenbeißer«, schaltete Alexander sich ein, »der ein bisschen dazuzuverdienen hofft, indem er sich mit großen runden Augen hinstellt und behauptet, diese zwanzig Parasiten, denen das Fett schon aus den Poren quillt, dürften Russland für alle Ewigkeit bei den Eiern gepackt halten, nur weil sie zu Beginn der so genannten Privatisierung an der richtigen Stelle einen Blumenstand eröffnet haben!«

»Puh! Wie vulgär!«, sagte ich.

»Dafür die Wahrheit. Wobei die besondere Tragödie des russischen Liberalismus darin liegt, dass der kleine Wadenbeißer trotzdem kein Geld dafür bekommt.«

»Wieso nicht?«, fragte ich.

»Früher aus Geiz. Heute aus Schiss. Und in Zukunft, weil kein Geld mehr da ist.«

Das hat man selten, dachte ich: dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so gnadenlos trist zu einer Sentenz gerinnen.

»Sie reden also einer Korrektur der Ergebnisse der Privatisierung das Wort?«, fragte Lord Cricket, der gespannt zugehört hatte.

»Warum auch nicht?«, mischte I Huli sich ein. »Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die ganze Menschheitsgeschichte der letzten zehntausend Jahre als eine pausenlose Korrektur der Ergebnisse der Privatisierung. Nur weil ein paar Leute sich eine große Menge Geld unter den Nagel gerissen haben, wird das nicht das Ende der Geschichte sein. Da können diese Herren drei Fukuyamas an jedem Finger haben!«

Schwesterlein I drückte sich zuweilen gern einmal radikal aus, mit einem Schuss ins Rabiate, was gut zu ihrer Raubtierschönheit passte und jedes potentielle Opfer sofort in Bann schlug. Auch jetzt war zu erleben, wie begeistert Alexander sie anstarrte.

»Exakt!«, sagte er. »Schade, dass ich keinen Stift dabeihabe, ich hätte mir diesen Gedanken sonst gleich notiert. Aber was sind denn Fukuyamas? So was wie Geishas?«

»Etwas in der Art«, sagte I Huli und drehte sich so, dass Alexander ihr Profil sah. En profil ist sie unvergleichlich.

So ein Miststück!, dachte ich. Dabei hat sie mir versprochen, dass sie … Und trotzdem: Man kam nicht umhin, ihr Bewunderung zu zollen. Schwesterlein I hatte keine Ahnung von Russland, wusste jedoch instinktiv, was sie sagen musste, um diesen Mann schon beim ersten Wurf an den Haken zu kriegen. Alexander blickte sie an mit offenem Mund, und ich begriff, dass ich ihn schleunigst zu mir herüber an Land ziehen musste. Also noch eins drauflegen in punkto Radikalität.

»Und darum ist dieser ganze Liberalismusstreit nur eine Wortklauberei«, sagte ich, wie um das Thema abzuschließen. »Und obwohl wir die liberale Demokratie im Prinzip hochhalten, stinkt das Wort im Russischen für die nächsten hundert Jahre zum Himmel!«

Alexander ließ verzückte Blicke zwischen I Huli und mir hin- und hergehen. Der Mann fühlt sich heute wie im siebten Himmel !, dachte ich.

»In Bezug auf das Wort hast du vollkommen Recht«, sagte er. »Es geht gar nicht um das liberale Aushängeschild. Es geht um diese widerlichen Wechselbälge, die sich damit tarnen. Da landet so ein fetter Off-Shore-Kater auf dem Weg zu seiner Steueroase in Amerika zwischen und gibt an, ein Liberaler zu sein, und die geknechteten Neger dort glauben, er wäre für die Legalisierung von Cannabis …«

»Sagen Sie mal, wie lässt sich denn eine so emotionale Sicht auf die Dinge mit Ihrer beruflichen Tätigkeit vereinbaren?«, wollte Lord Cricket wissen.

Alexander entging die Ironie, die dieser Frage innewohnte.

»Na hören Sie! Wir sollten schon wissen, wem wir ein Dach bieten und wem nicht … Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nicht sagen, dass Demokratie an und für sich etwas Schlechtes wäre. Demokratie ist gut. Schlecht ist nur, wenn Gauner und Betrüger sie für sich in Anspruch nehmen. Man muss der Demokratie helfen, die richtige Richtung zu finden. So sehen wir das.«

»Das wäre keine Demokratie mehr«, wandte Lord Cricket ein. »Das Wesen der Demokratie besteht gerade darin, dass keiner ihr hilft, sondern dass sie sich selber helfen muss.«

»Ach so? Soll das heißen, wir sitzen da und gucken zu, wie gewisse sogenannte Meistbegünstigte mit Doppelkinn und Dreifachstaatsbürgerschaft uns in alle Löcher ficken? Das haben wir zwanzig Jahre lang getan. Man hat uns die Pläne für die Homelands aufgezeichnet, das russischsprachige Personal war auch schon engagiert, wir wissen Bescheid … Wir haben das Kleingedruckte studiert. Meinen Sie, wir hätten die Schrauben nur aus Liebe zur Kunst angezogen? Irrtum! Drei Jahre länger, und wir wären ausgelutscht gewesen, so siehts aus.«