»Wer hätte Sie ausgelutscht?«, fragte Lord Cricket verwundert. »Die Demokratie? Der Liberalismus?«
»Demokratie, Liberalismus – das sind doch alles bloß Wörter auf Aushängeschildern, das hat das Mädel ganz richtig gesagt. Die Wirklichkeit hat viel mehr Ähnlichkeit mit einer Darmflora, wenn Sie den Vergleich erlauben. Bei Ihnen im Westen neutralisieren die Mikroben sich gegenseitig, das hat sich über die Jahrhunderte so ausbalanciert. Jeder produziert fein still seinen Schwefelwasserstoff und hält den Mund. Alles reguliert wie ein Uhrwerk, der Stoffwechsel läuft rund. Obendrauf sitzen die Medienkonzerne und speicheln das Ganze ordentlich ein. So ein Organismus darf sich offene Gesellschaft nennen, der braucht keine Stöpsel, der bohrt auf und lötet zu, wo und wen er will. Uns hingegen haben sie Stäbchenbakterien in die Gedärme gepflanzt – aus welchem Labor, darüber streiten noch die Gelehrten an denen hätte Robert Koch seine helle Freude gehabt, für die gab es weder Antikörper noch irgendwelche andere Mikroben, mit denen man hätte gegenhalten können. Und so fing der Große Dünnschiss an, bei dem dreihundert Milliarden Dollar abgeflossen sind, bevor überhaupt einer begriffen hat, was los war. Darum gab es für uns nur noch zwei Alternativen: entweder restlos auszulaufen durch ein nicht näher identifiziertes Afterleck – oder Antibiotika zu schlucken und dann langsam, aber sicher von vorne anzufangen. Und diesmal ganz anders.«
»Na ja, Antibiotika waren bei euch ja noch nie das Problem, denke ich«, bemerkte Lord Cricket. »Die Frage ist nur, wer sie verschreibt.«
»Dafür findet sich jemand«, sagte Alexander. »Nur keine Beraterverträge mehr mit Weltbank und Währungsfonds, die uns erst die Koch-Stäbchen anhängen und dann den Nachttopf unterschieben. Das kennen wir jetzt zur Genüge: tapfer in den Abgrund springen, kräftig unten aufknallen, und es gibt höflichen Applaus von der Weltgemeinschaft. Vielleicht, dass es ohne Applaus und ohne Abgrund besser für uns ausginge? Tausend Jahre ist Russland mit sich und dem eigenen Verstand klargekommen, und das, wenn man sich die Weltkarte betrachtet, nicht mal ganz schlecht. Aber nein, jetzt heißt es ab in den großen Schmelztiegel, und das nur, weil mal jemand ein guter Blumenverkäufer gewesen ist. Aber das wollen wir doch erst mal sehen, wer wen in die Pfanne haut. Wenn jemand uns partout umschmelzen möchte, mag er es versuchen. Nur könnte es passieren, dass er sich selber zu schwarzem Rauch verflüchtigt, dafür ließe sich sorgen! Die Chemikalien haben wir, und nicht zu knapp!«
Bei den letzten Worten ließ Alexander die Faust auf den Tisch niedergehen, dass Notebook und Beamer in die Höhe sprangen. Danach trat Stille ein. Man konnte eine verirrte Fliege zwischen Fenster und Gardine zappeln hören.
Manchmal wusste ich selber nicht, was größere Bestürzung bei mir auslöste: das monströse Liebesinstrument, mit dem ich es zu tun bekam, wenn er seine Wolfsphasen hatte, oder diese krassen, wahrhaft wölfischen Lebensansichten, die er äußerte, solange er Mensch war. Wahrscheinlich verzauberte mich beides gleichermaßen, und … Ich mochte den Gedanken nicht zu Ende denken, so erschreckend war er.
Zumal es wenig Grund gab, sich verzaubern zu lassen. Bei allem Anschein von Radikalismus, den er sich gab, sprach er doch nur von den Folgen, verschwieg die Ursache geflissentlich: die in schmatzender Selbstversorgung befangene Oberratte. (Vielleicht konnte ich ihretwegen niemanden vom Blasen reden hören, fiel mir plötzlich ein – Psychopathologie des Alltagslebens nennt sich so etwas.) Wahrscheinlich war Alexander über all dies bestens im Bilde, trickste jedoch. Dafür, dass einer in Clan Canaria lebte und den Apparat übersah, musste er viel Geld geboten kriegen – und daran schien es Alexander nicht zu fehlen. Aber vielleicht war doch kein Tricksen dabei, wer konnte das wissen … Mir selber waren die Zusammenhänge bezüglich Upper rat und Von-Unten-Nehmer ja auch erst aufgegangen, als ich im Brief an mein Schwesterlein E nach Erklärungen suchte. Und was im Kopf eines Wolfes vorging, darüber wusste ich einstweilen noch wenig.
Als Erster gewann Lord Cricket die Fassung wieder. In seinem Gesicht spiegelte sich aufrichtiges Bedauern. (An Aufrichtigkeit glaubte ich selbstredend keine Sekunde: Die mimische Versiertheit des britischen Aristokraten ließ nur einfach keine andere Beschreibung zu.)
»Bis zu einem gewissen Grad kann ich Ihre Gefühle nachvollziehen«, sagte er mit einem Blick zur Uhr. »Aber ehrlich gesagt, reizt es mich wenig, dem Weg zu folgen, den Ihr Geist mir da vorzeichnet. Die Landschaft, in die er führt, ist so öde! Über solchen fruchtlosen Debatten bringen manche Menschen ihr ganzes Leben zu. Und dann sterben sie.«
»Was sollten sie sonst tun«, stellte Alexander fest. »Gibt es Alternativen?«
»O ja!«, sprach Lord Cricket. »Es gibt sie, das dürfen Sie mir glauben. Unter uns leben Geschöpfe von anderer Natur. Wie ich hörte, hegen Sie ein durchaus ernsthaftes Interesse an Ihnen. Die widerlichen Wechselbälge, wie Sie sich ausdrückten – sie begegnen den Bagatellen, über die Sie sich so ereifern, mit Gleichmut. Und sie verstecken sich beileibe nicht hinter liberalen Aushängeschildern – in diesem Punkt irren Sie. Die Spiegelwelten, derentwegen Ihnen die Faust ausrutscht und die Zornesadern anschwellen – sie werden von ihnen einfach ignoriert …«
Alexander senkte mürrisch den Kopf.
»Wahrscheinlich könnten Sie diesen Geschöpfen die Ursache Ihres Grolls gar nicht begreiflich machen«, fuhr Lord Cricket fort. »They march to the sound of a different drummer, wie Thoreau schrieb … Sie sind bar jeder Ideologie – was nicht heißt, dass sie vom Schicksal benachteiligt wären, eher im Gegenteil. Ihre Existenz ist sehr viel realer als die des Menschen. Denn das, worüber Sie die ganze Zeit reden, ist lediglich ein Traum. Nehmen Sie eine fünfzig Jahre alte Zeitung zur Hand, lesen Sie! Lauter engstirniges dummes Zeug, kleinliche Ambitionen längst verblichener Leute, damals schon tot, nur dass sie es nicht wussten … Dieser ganze hochgekochte Kram im Hier und Heute, der Sie so mitnimmt, unterscheidet sich nicht von dem, was die Geister damals bewegt hat. Höchstens, dass die Wortfolge in den Überschriften ein wenig abweicht. Besinnen Sie sich!«
Alexander hatte den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen. Anscheinend traf Lord Cricket ihn an einem wunden Punkt.
»Interessiert es Sie denn gar nicht, wer diese so ganz anders gearteten Wesen sind? Und worin sie sich von den Menschen unterscheiden?«
Diese Frage gab Alexander den Rest.
»Doch, doch«, brummelte er.
»Dann vergessen Sie den ganzen Quatsch. Kommen wir zur Sache! Ich möchte Ihnen heute davon berichten, was es mit der Fähigkeit mancher Menschen, zum Tier zu werden, auf sich hat – eine Verwandlung in ganz handfestem, unmetaphorischem Sinne. Funktioniert alles, Anthea? Dann darf ich darum bitten, das Licht zu löschen …«
»Was Sie nun zu hören bekommen«, begann Lord Cricket, »darf als ein esoterisches Wissen gelten. Ich muss Sie bitten, Stillschweigen darüber zu bewahren. Die Informationen, die ich Ihnen zukommen lassen möchte, gehen auf die Loge Rosa Abendlohe zurück, genauer gesagt, auf Aleister Crowley, David Bowie, The Pet Shop Boys und wer auf dieser Linie noch so für diskrete Weitergabe sorgt. Das Erfordernis der Geheimhaltung, von dem ich spreche, ist von prinzipieller Wichtigkeit – weniger für den Orden, als für Ihre eigene Sicherheit. Nehmen Sie die Bedingung an?«
Alexander und ich wechselten einen Blick.
Ich bejahte. Alexanders Zustimmung kam etwas zögerlicher.