Lord Cricket berührte eine Taste seines Notebooks. An der Wand erschien die schematische Darstellung eines Menschen im Lotossitz. Längs seines Rückgrats verlief eine senkrechte Linie. Auf ihr waren mit Sanskritzeichen versehene Symbole platziert, es sah aus wie eine Reihe bunter Zahnräder mit verschieden vielen Zähnen.
»Ihnen dürfte bekannt sein, dass der Mensch nicht nur ein physischer Körper mit einem auf die Wahrnehmung der materiellen Welt abgestellten Nervensystem ist. Feinstofflich gesehen, stellt der Mensch eine psychoenergetische Struktur dar, die aus drei energetischen Kanälen und sieben psychischen Zentren besteht, den so genannten Chakren.«
Lord Cricket fuhr mit dem Finger über etwas wie eine Fahrradkette, die die auf der Wirbelsäule sitzenden Zahnräder miteinander verband.
»Diese Feinstruktur reguliert nicht nur das geistige Leben eines Menschen, von ihr hängt auch ab, wie er seine Umwelt wahrnimmt. Jedes Chakra ist mit einem bestimmten Komplex psychischer Eigenschaften gekoppelt, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Wichtig für uns ist, dass sich, ganz im Einklang mit den Auffassungen der okkulten Tradition, jegliche geistig-spirituelle Entwicklung als Auftrieb längs der energetischen Mittelachse vollzieht, in Form der so genannten Kundalini oder Schlangenkraft.«
Auf der Leinwand erschien ein vergrößerter Ausschnitt des Schaubilds mit einem auf der Spitze stehenden Dreieck am unteren Ende der Wirbelsäule.
»Im eingerollten Zustand schlummert die Kundalinikraft in diesem dreieckigen Knöchelchen, Sakrum genannt. Das Sakrum befindet sich am Grunde der Wirbelsäule, als ihr erster Knochen. Beziehungsweise ihr letzter, je nachdem, von welcher Seite man herangeht. Die okkulte Tradition sieht es so, dass die schrittweise energetische Aufladung der Chakren durch die Kundalini den Weg von der geistigen Indifferenz über allerlei Fragen profaner Natur hinauf zum Sakralen ausmacht, durch das die Einheit mit dem Göttlichen vollzogen wird …«
Lord Cricket ließ etwas Zeit vergehen, ehe er weitersprach.
»Die meisten Schulen der okkulten Lehre waren sich darin einig, dass die Kundalini nur den Weg über den Mittelkanal nach oben nehmen kann. Davon, dass die Schlangenkraft sich auch abwärts bewegen könnte, ist in den zugänglichen Quellen nirgends die Rede. Nichtsdestoweniger liegt solch ein energetisches Manöver im Bereich des Möglichen.«
Das nächste Schaubild glich dem ersten, nur dass die senkrechte Linie durch die gekreuzten Beine des Sitzenden nach unten gezogen war; drei neue Zahnräder kamen hinzu, sie waren schwarz und trugen anstelle des sanskritischen Zeichens eine römische Ziffer: das dem Mann zunächst gelegene die I, das mittlere die II, das entfernteste die III.
»Wie man die Kundalini dazu bringt, abwärts zu fließen, darüber möchte ich hier nicht sprechen. Es setzte ein Höchstmaß an Initiation voraus, eine Bedingung, die keiner der hier Anwesenden erfüllt.«
»Machs halblang, Brian«, ging I Huli ihn an. »Das kannst du ihnen doch erzählen.«
»Alles zu seiner Zeit, Anthea«, meinte Lord Cricket. »Durch eine bestimmte Prozedur ist es jedenfalls möglich, die Kundalini auf einer gedachten Verlängerung der Mittelachse nach unten zu führen. Dabei kann sie in drei Punkten landen, die als spiegelbildliche Projektion der drei unteren Chakren zu verstehen sind: Muladhara, Swadhishtana und Manipura.«
Er fuhr mit dem Finger über die drei schwarzen Zahnräder auf der Leinwand. Mir fiel auf, dass No. I vier Zähne hatte und darum Ähnlichkeit mit dem Messer eines Fleischwolfs. No. II hatte sechs, es ähnelte einem asiatischen Wurfgeschoss. Und No. III bestand aus zwei übereinandergelegten Sternen zu je fünf leicht gebogenen Zacken, insgesamt also zehn.
»Wie bereits angedeutet, führt der Auftrieb der Kundalini längs der Mittelachse zu einer Verschmelzung mit Gott, respektive zur Göttlichkeit. Daraus ließe sich logisch schlussfolgern, dass die Abwärtsbewegung einen gegenteiligen Effekt haben müsste. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf einen außerordentlich interessanten Umstand aufmerksam machen, unser bezaubernder junger Gast hat ihn mir in Erinnerung gerufen, als sie von den verschiedenen Bedeutungen gleichklingender Wörter in verschiedenen Sprachen sprach …«
Lord Cricket deutete eine Verbeugung an und lächelte. Ich lächelte zurück. »Leg dir Manieren zu, du Flegel!«, wisperte ich in Alexanders Richtung.
»Wie richtig bemerkt wurde«, fuhr Lord Cricket fort, »heißt Gott auf Russisch Bog und auf Englisch God. Liest man das Wort God von hinten her, ergibt sich Dog, also Hund. Sie werden mir zustimmen, dass dies kein simpler Zufall sein kann. Man darf darüber streiten, was zuerst da war: die Sprache oder die Wirklichkeit, die von ihr reflektiert wird. Das ist die alte Frage nach dem Huhn und dem Ei.«
Auf der Leinwand erschienen die Silhouetten dreier Tiere: Wolf, Hund und Fuchs.
»Mit dem Sammelbegriff Wertier, Werwesen oder auch Wechselwesen bezeichnet man einen Menschen, der die Gestalt eines Tieres anzunehmen in der Lage ist. Der gängigere Ausdruck dafür in westlichen Sprachen ist Werwolf. In diesem Wort ist das konkrete Tier, in das der Mensch sich verwandelt, schon genannt. In der chinesischen Folklore hingegen denkt man beim entsprechenden Wort zuerst an Füchse. Dies ist jedoch kein fundamentaler Widerspruch – Wolf und Fuchs gehören beide zur Familie der hundeartigen Säugetiere. Das ist derselbe rückwärts gelesene Gott, dieselbe energetische schwarze Messe, dasselbe Absacken der Kundalinikraft.«
»Energetische schwarze Messe …«, echote I Huli leise und bedachte ihren Mann mit einem respektvollen Blick.
»Es stellt sich die Frage, wie die Kundalini vorankommt, wenn sie den Körper verlässt? Sich durch den leeren Raum zu bewegen dürfte ihr kaum möglich sein. Und hier wartet auf uns die eigentliche Überraschung. Einmal mehr ließe sich lange darüber streiten, was Ursache ist und was Folge: Der Austritt der Kundalini geht jedenfalls mit einer physischen Mutation einher. Ein unglaublicher Vorgang. Sie haben sicher schon einmal Vulkane im Fernsehen ausbrechen sehen? Dabei kann man mitunter beobachten, wie die abwärts gleitende Lava sich ein Bett in den Hang brennt, das Minuten zuvor dort noch nicht gewesen war. Ebenso schafft sich die Kundalini einen physischen Austrittskanal. Und in dem Moment, wo sie in Bereiche unterhalb des Muladhara absackt – das ist das zuunterst befindliche, am Ende der Wirbelsäule gelegene Chakra des Menschen – wächst dem Werwesen ein Schweif!«
Auf der Leinwand erschienen zwei Schweife: der eine vom Wolf, der andere vom Fuchs. Letztere Abbildung wies einige lustige Fehler auf. Auf dem nächsten Bild sah man wieder den Mann im Lotossitz, nun aber mit Schweif, auf den die drei schwarzen Zahnräder appliziert waren.
»Über diesen Schweif gelangt die Kundalini-Energie zu den drei Infrachakren. Diese haben keine sanskritischen Namen. Man bezeichnet sie hilfsweise als Fuchsposition, Wolfsposition und Abgrund. Das körpernächste Infrachakra ist die Fuchsposition.«
Er zeigte auf das schwarze Fleischwolfmesser mit der Ziffer I.
»Sie gilt als ein Punkt mit stabilem Gleichgewicht, an dem die Energie dauerhaft verbleiben kann. Insofern ist es für das betreffende Werwesen kein Problem, beliebig lange in Fuchsgestalt aufzutreten. Was aber nicht etwa heißt, dass hierbei auch nur annähernd ein Fuchs im zoologischen Sinne entstünde. Die Schlangenkraft überschreitet die Grenzen des Körpers nur unwesentlich, weshalb sich das Werwesen phänomenologisch auch nur wenig vom Menschen unterscheidet. Ein unscheinbares Geschöpf mit Schweif und einer leichten Verformung der Ohren …«
Um ein Haar hätte ich gefaucht.
»Außerdem erfolgt eine Transformation der Pupillenform, die Augenbrauenbögen treten ein wenig hervor … Doch wenn sie einem solchen Geschöpf auf der Straße begegneten, fielen Sie gewiss nicht aus allen Wolken …«
»Ist ja irre!«, sagte I Huli.
Nun deutete Lord Cricket auf das Zahnrad in der Mitte des Schweifes.