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»Wandert die Kundalini in das zweite Infrachakra, ist die Verwandlung optisch weitaus attraktiver. Hier haben wir es mit einem Klassiker zu tun, dem sogenannten Werwolf. Es entsteht kein einfacher Wolf. Es ist die Übertreibung eines Wolfes, wenn man so sagen darf. Übermannsgroß, unerhört kräftig, mit einem weiten, gezahnten Rachen, geht wie ein Mensch auf zwei Beinen, kann aber bei Bedarf auch auf allen vieren sprinten. In der Folklore findet sich sein recht genaues Abbild, immerhin war es das am weitesten verbreitete Werwesen in Europa. Auf ein interessantes Detail möchte ich besonders hinweisen: Es heißt, die Transformation zum Werwolf geschehe nur in einer ganz bestimmten Mondphase und bei Einbruch der Dämmerung. Und ihr Ende findet die Wolfsphase den landläufigen Vorstellungen zufolge im Morgengrauen, da dieses Teufelspack angeblich kein Sonnenlicht verträgt. In Wirklichkeit spielen Licht und Dunkel hierbei keine Rolle. Dafür trifft eine andere Beobachtung zu: Die Transformation zum Werwolf erfolgt immer nur kurzzeitig, denn das Infrachakra No. II verfügt über ein instabiles Gleichgewicht, in dem die Kundalini nie lange verbleibt …«

»Stabiles Gleichgewicht, instabiles Gleichgewicht – was bedeutet das eigentlich?«, fragte I Huli, Lord Cricket beugte sich über sein Notebook.

»Moment«, sagte er, »auch dafür habe ich irgendwo ein Schaubild …«

Auf der Leinwand erschien ein Bild von Stonehenge, dann das in Grüntönen gehaltene Werbefoto eines Wohnwagens, in dessen Fenster dilettantisch, doch liebevoll eine Vase mit Narzissen einmontiert war. Schließlich eine sinusförmige schwarze Linie.

»Da haben wir es!«, sagte Lord Cricket. »Entschuldigen Sie das Durcheinander.«

Im Tal der Sinuskurve lag eine blaue Kugel, auf dem Scheitel eine rote. Von den Kugeln gingen kurze Pfeile in gleicher Farbe aus, sie sollten Bewegung symbolisieren.

»Das ist ganz einfach«, sagte der Lord. »Beide Kugeln befinden sich im Gleichgewicht. Doch wenn Sie die blaue Kugel anstoßen, wird sie an den Punkt zurückkehren, an dem sie sich zuvor befand. Das nennt man ein stabiles Gleichgewicht. Verschieben Sie aber die rote, so wird sie an den jetzigen Punkt nicht zurückkehren, sondern einfach runterrollen. Das ist ein instabiles Gleichgewicht.«

»Ich hätte auch eine Frage«, sagte Alexander. »Darf ich?«

»Bitte!«

»Warum ist die eine Kugel blau, die andere rot?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Na ja. Genauso die Pfeile. Wieso ausgerechnet diese beiden Farben?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Keine«, sagte Alexander, »aber interessant ist es doch. Vielleicht wissen Sie ja nicht, dass das Wort blau im Russischen für Homosexualität steht. Mich beschäftigt seit Ewigkeiten die Frage, wieso auf allen Generalstabskarten die Pfeile immer entweder rot oder blau sind. So als bestünde der Grundwiderspruch der Geschichte im Kampf zwischen Schwulen und Kommunisten. Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Erklärung dafür.«

»Wieso ausgerechnet diese beiden Farben, kann ich Ihnen leider nicht sagen«, erwiderte der Lord höflich. »Darf ich fortfahren?«

Alexander nickte. Auf der Leinwand erschien wieder der Schweif mit den schwarzen Infrachakren.

»Wie ich schon sagte, ist die Position No. II, an der die Transformation zum Wolf erfolgt, instabil. Legte man die Sinuskurve über die Zeichnung, so würden Sie sehen, dass die benachbarten Positionen No. I und III stabil sein müssen. No. I ist die Fuchsposition, über sie sprachen wir schon. Nun werden Sie sich wahrscheinlich fragen, was es mit Position No. III auf sich hat?«

»Ja, wirklich, Brian,«, sagte I Huli, »was ist das für eine Position? Sag es uns!«

»Ich erwähnte bereits, dass die Infrachakren bei einem Werwesen symmetrisch zu den drei unteren Chakren des Menschen liegen. Das letzte Infrachakra, das sich ganz am Schweifende befindet, ist ein Spiegelbild des Manipura, welches zwischen Nabel und Herz liegt. An dieser Stelle ist der Mittelkanal unterbrochen. Die Kundalini kann nicht auf die oberen Chakren überspringen, wenn die Zone rund um das Manipura, der sogenannte Ozean der Illusionen, nicht mit den Energien eines wahrhaftigen spirituellen Lehrers gefüllt ist. Dasselbe gilt, nach dem Prinzip des Hermes Trismegistos, für die Infrachakren eines Werwesens. Um die Kundalini an ihre unterste Grenze zu führen, braucht es eine Invokation der Finsternis, den spirituellen Beistand eines übergeordneten Dämonen, der mit seinen Vibrationen die sogenannte Wüste der Wahrheit ausfüllt – die Lücke in der Verlängerung der Mittelachse, in Schweifmitte …«

»Was ist das für ein übergeordneter Dämon?«, fragte ich ungeduldig.

Der Lord lächelte.

»Das kommt ganz auf Ihre persönlichen Verbindungen an«, sagte er. »Da hat jeder seine eigenen Möglichkeiten … Wir sind am Ende dessen angelangt, was auszusprechen ich berechtigt bin. Ich darf nur noch eines hinzufügen: Position No. III, der sogenannte Abgrund, ist der Ort, wo die Transformation zum Überwertier erfolgt.«

»Und hat schon mal jemand dieses Manöver bewerkstelligt?«, wollte ich wissen.

»Diversen Quellen zufolge ist dies im Jahr 1925 einem Ihrer Landsleute gelungen, dem Moskauer Anthroposophen Bellow alias Scharikow. Er war Schüler von Doktor Steiner, befreundet mit Maximilian Woloschin und Andrej Bely. Bellow wurde, soweit bekannt, von der Tscheka festgesetzt, und die ganze Angelegenheit wurde totgeschwiegen. Der Geheimhaltung hat man damals sehr große Bedeutung beigemessen: Ich darf daran erinnern, dass dem Schriftsteller Bulgakow das Manuskript seines Romans Hundeherz aus diesem Grunde entzogen wurde – das Buch fußt auf den Gerüchten, die zu diesem Geschehnis in Umlauf waren. Danach ward Bellow nie wieder gesehen.«

»Ein Überwertier, was soll das überhaupt sein?«, fragte Alexander.

»Das weiß ich nicht«, sprach Lord Cricket. »Noch nicht. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie begierig ich bin, dies herauszufinden …«

»Wieso läufst du eigentlich schon frühmorgens in Abendkleid und Stöckeln herum?«, fragte mich Alexander.

»Steht mir das etwa nicht?«

»Doch, doch, Schwarz steht dir sehr gut«, sagte er, seine Wange vorsichtig an meiner reibend. »Weiß übrigens genauso.«

Statt uns zu küssen, rieben wir manchmal die Wangen aneinander. Zuerst hatte mich dieses Gebaren belustigt: Kinder benahmen sich so oder Welpen … Später gab er zu, dass es ihn gelüstete, an meiner Haut zu schnuppern, deren Odem in Ohrnähe offenbar besonders aufregend ist. Seither empfand ich bei diesem Ritual einen gelinden Verdruss – irgendwie fühlte ich mich benutzt.

»Heißt das, wir gehen heute ins Theater?«, bohrte er.

»Nein. Ich hätte was Spannenderes zu bieten. Wir fahren auf die Jagd.«

»Ach. Was wollen wir denn jagen?«

»Jagen werde ich allein. Du wirst zuschauen.«

»Und wen wirst du jagen?«

»Hühner«, sagte ich stolz.

»Knurrt dir der Magen?«

»Ha, ha.«

»Wozu sonst eine Hühnerjagd?«

»Ich möchte einfach, dass du mich ein bisschen besser kennen lernst. Pack deine Tasche – wir fahren raus ins Grüne.«

»Was denn, jetzt gleich?«

»Klar. Aber zuvor musst du das hier lesen. Man unterbreitet dir ein kommerzielles Angebot.«

Und ich reichte ihm den Ausdruck eines Briefes, den ich am Morgen per E-Mail von I Huli bekommen hatte.

Grüß Dich, Rotschwänzchen,

pursuant to unserem gestrigen Treffen (sehr nett!). Die Zeit, die wir unsere Jungs sich selbst überließen, um über alte Zeiten zu plaudern, haben sie, wie sich herausstellt, zu einem Streitgespräch über moderne Kunst genutzt. Brian hat Alexander ein paar Fotos von Arbeiten gezeigt, die er in Kooperation mit der Saatchi Gallery auszustellen gedenkt. Da wäre zum einen die Installation Befreiung Babylons: ein Modell des Ischtar-Tors, vor dem zehn gefakte schottische Fallschirmjäger mit Dudelsäcken und gerafften Röcken stehen. Die Gipsfiguren drängen ihre Erektionen dem Betrachter auf, attackieren seine Wahrnehmung und verwandeln ihn so selbst in ein betrachtenswertes Exponat. In einem der Schwerkraft des künstlerischen Objekts ausgesetzten und unterworfenen Raum wird der Zuschauer sich der eigenen räumlichen Präsenz in ihren physischen und emotionalen Koordinaten bewusst. Die Befreiung Babylons hat Alexander gefallen, was sich von den anderen Werken nicht sagen lässt.