»Geht es nicht ohne Hochachtung?«
»Dann ist es nicht aristokratisch.«
»Von mir aus schick es so ab«, seufzte er. »Und komm zu mir, wenn du fertig bist. Der Graue Wolf hat mit dem Rotkäppchen was zu bedingsen.«
»Worum geht's denn?«
»Ach, ich plane ein … Kolloquium zur Psychoanalyse des russischen Volksmärchens, weißt du. Da geht es darum, mit einem Kuchen dem Rotkäppchen in den Korb zu treffen. Leider gibt es nur einen einzigen Kuchen. Den müssen wir darum immer wieder rausnehmen und neu reinwerfen.«
»Puh, du bist schon wieder so vulgär …«
»Kommst du rüber, oder soll ich kommen?«
»Ich komm schon. Aber lass es uns kurz machen, versprochen? Wir müssen nämlich los. Und heute beißt du mir gefälligst nichts kaputt, hörst du? Ich hab mir die Sohlen abgelaufen, um neue Slips zu kriegen. Mir passt schließlich nicht jeder.«
»Schon recht.«
»Und noch was. Solange du noch reden kannst …«
»Was denn?«
»Warum musst du in alles, was du sagst, immer diese selbstzufriedene Apologie militanter Unbildung einflechten?«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Na, gerade eben zum Beispiel, das übers Rotkäppchen und die Psychoanalyse. Manchmal kommt es mir so vor, als wolltest du in meiner Person alle Kultur und Geschichte ficken …«
»Mit Kultur könntest du Recht haben, aber Geschichte? Spielst du jetzt die Sphinx oder was? Wie alt bist du überhaupt, sag mal? Wenn ich schätzen müsste, ich gäbe dir höchstens sechzehn. Aber wie alt bist du wirklich?«
Ich spürte meine Wangen glühend heiß werden.
»Ich?«
»Ja, du.«
»Also weißt du«, fiel mir ein, »ich hab da mal ein Gedicht in die Hand bekommen, das hat ein Staatsanwalt des Justizministeriums geschrieben und in kleiner Auflage verbreitet, da ging es um einen jugendlichen Kämpfer fürs Vaterland, das Gedicht fing an mit der Zeile: Ich gäb ihm keine fünfzehn Jahre …«
»Klaro! Sohn des Regiments wurden solche damals genannt … Aber was soll das jetzt?«
»Na ja. Wenn einer wie du, in dieser Uniform, sich hinstellt und sagt: Ich gäbe dir höchstens sechzehn, da fragt man sich doch gleich, nach welchem Paragraphen.«
»Falls dich die Uniform reizt«, sagte er, »musst du bloß dein dämliches Kleid ausziehen – dann findest du schnell anstelle der Schulterklappen ein schönes weiches Fell … Na, also. Brav … Bist doch ein kluges Kind …«
»Was ich noch fragen wollte: Besorgst du ihnen den Passierschein für die Kathedrale oder nicht?«
»U-u-uh!«
»Nicht? Na, geschieht ihnen recht. Wir haben es diesem Brian ja ordentlich gezeigt, hi-hi … Obwohl … Wollen wir es ihm nicht noch deutlicher zeigen, auf die ganz superaristokratische Art?«
»R-r-rrr!«
»Dann sollten wir ihm jetzt, nachdem du ihm gezeigt hast, wo der Hammer hängt, trotz allem den Passierschein organisieren. Das wäre … das Nonplusultra wäre das. Was meinst du?«
»R-r-rrr!«
»Machen wir es so?«
»R-r-r-rrr!«
»Na, fein. Ich werd dich nachher dran erinnern … Mann, du bist nicht gescheit! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nichts kaputtbeißen! Geh doch in einen Hundeladen und kauf dir einen Gummiknochen, den kannst du beknabbern, bis du schwarz wirst – und mich brauchst du nicht dazu! Sticht dich der Hafer wirklich so sehr? Na, komm her, Isegrim … Aber mach hin, in einer Stunde müssen wir im Wald sein!«
Der Wagen hielt am Waldrand, unweit des sechsgeschossigen Plattenbaus, den ich als Startmarkierung ausersehen hatte.
»Und wohin jetzt?«, fragte Alexander.
Er zeigte die herablassende Freundlichkeit des Erwachsenen, der von Kindern in irgendein dämliches Spiel hineingezogen wird. Das ärgerte mich. Warten wirs ab, dachte ich, was du in einer Stunde zu sagen hast!
Ich griff mir die Tüte mit dem Champagner und den Gläsern und stieg aus dem Auto. Alexander instruierte leise den Chauffeur und kam hinterher. Ich schlenderte in den Wald hinein.
Dort herrschte schon Sommer. Es waren jene erstaunlichen Maientage, wo Blätter und Blüten unsterblich scheinen, Sieger für alle Zeit. Doch ich wusste: Nur zwei, drei Wochen mussten vergehen, dann würde sich in der Moskauer Luft ein Vorgefühl von Herbst breitmachen.
Anstatt mich lange an der Natur zu ergötzen, sah ich lieber auf meine Füße: Die Stöckel sanken in den Waldboden ein, ich musste achtgeben, wohin ich trat. Wir kamen zu einer Bank zwischen zwei Birken. Die nächste Wegmarke. Von hier bis zum Forsthaus waren es nur noch ein paar Schritte.
»Setzen wir uns doch einen Moment«, sagte ich.
Wir nahmen auf der Bank Platz. Ich reichte ihm die Flasche, er öffnete sie geschickt.
»Schönes Plätzchen«, sagte er, während er den Champagner einschenkte, »und so still. Gerade erst Frühling geworden, und alles grünt schon und blüht. Im Norden ist noch Eis und Schnee.«
»Wieso fällt dir das gerade jetzt ein?«
»Nur so. Worauf trinken wir?«
»Weidmannsheil!«
Wir stießen an. Ich trank mein Glas leer und zerschlug es an der Bankkante. Mit einer Scherbe zerschnitt ich den Träger des Kleides an meiner rechten Schulter. Alexander beobachtete mein Treiben mit stummer Missbilligung.
»Spielst du die Amazone heute?«, fragte er dann.
Ich hielt den Mund.
»Und sag doch mal, wieso du ganz in Schwarz bist? Dazu noch diese Sonnenbrille! Ist das die Matrix-Tour?«
Ich sagte immer noch nichts.
»Es ist ja wirklich nicht so, dass dir Schwarz nicht stünde, aber …«
»Ab hier geh ich alleine weiter«, unterbrach ich ihn.
»Aha. Und was mache ich in der Zeit?«
»Wenn ich gerannt komme, kannst du mir nachlaufen. Aber seitlich halten. Und misch dich um Himmels willen nicht ein. Auch dann nicht, wenn dir irgendwas nicht in den Kram passen sollte. Halt dich zurück und schau zu.«
»Gut.«
»Und bleib auf Abstand. Du verschreckst sonst die Leute.«
»Was für Leute?«
»Das wirst du sehen.«
»Gefällt mir alles nicht besonders«, meinte er. »Ich mach mir Sorgen um dich. Wollen wir das Ganze nicht lieber lassen?«
Ich stand entschlossen auf.
»Wir fangen an.«
Es war bereits die Rede davon, dass die Hühnerjagd auf eine supraphysische Transformation abzielt, wobei es sehr auf die richtige Reihenfolge der einleitenden Handlungen ankommt. Damit die Transformation in Gang kommt, bringen wir uns selbst in eine extrem peinliche Situation: dass einem vor lauter Peinlichkeit die Luft wegbleibt, man vor Scham im Erdboden versinken möchte. Diesem Zweck sind Abendkleid und Hackenschuhe dienlich. Wir überspitzen die Situation derart, dass es für uns gar keinen anderen Ausweg mehr gibt, als zum Tier zu werden. Das Hühnchen wird als biochemischer Katalysator benötigt – ohne kommt es nicht zur Transformation. Und es ist sehr wichtig, dass es bis zuletzt am Leben bleibt – stirbt es, erlangen wir unser menschliches Aussehen viel zu schnell zurück. Darum sollte die Wahl auf ein möglichst gesundes und kräftiges Tier fallen.
Während ich mich dem Hühnerstall näherte, sah ich zum Haus des Forsthüters hinüber. Die Sonne spiegelte sich in den Scheiben, sodass ich nicht erkennen konnte, ob dahinter jemand war. Doch es befanden sich Leute im Haus. Aus der offenen Tür drang Musik. Gesetzte Männerstimmen, ein kleiner Mönchschor vielleicht: »Nacht kommt herzu … Himmlische Ruh … Gott hält die Hand übers schlafende Land …«
Ich hatte keine Zeit zu verlieren.
Der Hühnerstall war eine Bretterbude mit einem Schrägdach aus Sperrholz, darüber eine Abdeckung aus Kunststoff. Ich schob den Riegel zurück, zog die über den Boden schleifende Tür auf – und konnte in dem stinkenden Halbdunkel sogleich meine Beute ausmachen. Ein braunes Huhn, an den Seiten weiß. Während alle übrigen Hühner auseinanderstoben, blieb es als Einziges hocken. Scheint auf mich gewartet zu haben! dachte ich.