»Put-put-put!«, machte ich mit rauer, unaufrichtiger Stimme, beugte mich schnell nach vorn und griff zu.
Das Huhn erwies sich als friedlich. Ruckte nur einmal, um den eingeklemmten Flügel zu richten, hielt dann still. Wie immer in diesen Momenten schien es mir, als verstünde das Tier sehr wohl, was gespielt wurde und welche Rolle ihm dabei zukam. Ich presste es gegen meine Brust und trat den Rückzug an. Ein Schuh blieb mit dem Absatz im Boden hängen, knickte um und rutschte vom Fuß. Ich schleuderte den zweiten hinterher.
»He, Mädel!«, ertönte eine Stimme.
Ich hob den Kopf. Auf den Stufen vor der Haustür stand ein Mann um die fünfzig in verschlissener Arbeitsjacke, mit buschigem Hängeschnauzer.
»Was tust du da?«, fragte er. »Hast du sie noch alle?«
Hinter dem Mann trat ein rotbackiger Bursche aus dem Haus, um die dreißig, auch er mit Schnauzbart – anscheinend der Sohn. Er trug einen blauen Trainingsanzug mit den Großbuchstaben ZSKA. Beide waren sie viel zu massig, um Schnellläufer zu sein, wie ich sogleich registrierte.
Der Moment der Wahrheit nahte. Ich schaute sie an mit einem Mona-Lisa-Lächeln und zog den Reißverschluss an meiner rechten Seite auf, sodass das Kleid nur noch vom linken Träger gehalten wurde. Mühelos schlüpfte ich heraus, ließ es zu Boden gleiten. Nun trug ich nur noch ein kurzes orangenes Flatterhemd mit viel Bewegungsfreiheit. Ein angenehmer Windhauch umspielte meinen halbnackten Körper.
Ein dritter Augenzeuge war aus dem Haus getreten: ein Knabe von vielleicht acht Jahren, mit einem Plastikschwert in Händen. Ohne jedes Zeichen von Verwunderung starrte er herüber: Wahrscheinlich hielt er mich für dem Fernseher entsprungen, und da hatte er schon ganz anderes gesehen.
»Schämst du dich gar nicht?«, fragte das hängeschnauzbärtige Familienoberhaupt.
Das traf ins Schwarze. Die Scham erfüllte mich bereits bis zu den Haarwurzeln. Scham war zu wenig gesagt: Ich verabscheute mich. Fühlte mich im Epizentrum aller Schmach der Welt. Nicht bloß die gekränkten Hühnerbesitzer schauten auf mich, nein, ganze Himmelshierarchien, Myriaden geistiger Wesen blickten mit Wut und Verachtung aus ihren unzugänglichen Welten herüber. Ich tat die ersten Schritte vom Hühnerstall weg.
Vater und Sohn wechselten einen Blick.
»Lass das Huhn los«, sprach der Sohn und kam die Stufen herab.
Der Knabe mit dem Schwert riss den Mund auf, die Sache versprach lustig zu werden. Ich aber wusste – und das nicht mehr nur mit dem Kopf, nein, mit dem ganzen Körper, bis in die letzte Faser hinein dass es aus dem Kokon meiner unerträglichen Schande nur einen einzigen Ausweg gab: Es war der Weg, der in den Wald führte. Also drehte ich mich um und rannte los.
Altes weitere lief nach Schema F. Die ersten Schritte waren schmerzhaft wegen der Äste und Steine, die sich in die nackten Sohlen bohrten. Doch schon nach wenigen Sekunden setzte die Transformation ein. Als Erstes spürte ich, wie es mir die Finger zusammenzog. Das Huhn festzuhalten wurde schwieriger, ich musste es nun mit aller Kraft gegen die Brust pressen und dabei aufpassen, dass ich ihm nicht versehentlich die Luft abdrückte. Dann ließ der Schmerz in den Sohlen urplötzlich nach, weitere Sekunden später fegte ich schon auf drei Beinen dahin, und es machte mir überhaupt nichts aus.
Zu dem Zeitpunkt ließen sich die Veränderungen an mir nicht mehr übersehen – und sie wurden bemerkt. Hinter mir ertönte höhnendes Geschrei. Ich sah mich um mit gefletschten Zähnen. Beide Hühnerhalter, Vater und Sohn, verfolgten mich. Doch der Abstand war bereits beträchtlich. Ich bremste ab, um mich aus dem Flatterhemd herauszuwinden (was keine Mühe bereitete – mein Leib war sehnig und biegsam geworden), ließ sie ein Stück herankommen, bevor ich weiterlief.
Was bringt einen Menschen in solch einer Situation dazu, hinter einem Werfuchs herzujagen? Hier geht es natürlich längst nicht mehr darum, gestohlenes Eigentum wiederzuerlangen. Erlebt ein Werfuchs seinen supraphysikalischen Schub, bekommen seine Verfolger etwas zu sehen, das all ihre Vorstellungen von der Welt über den Haufen wirft. Von da an geht es nicht mehr um ein geklautes Huhn, sondern um dieses Wunder. Sie haschen einem Abglanz des Undenkbaren hinterher, der ihr schummriges Leben zum ersten Mal hat aufglänzen lassen. Deshalb ist es für unsereins manchmal gar nicht so einfach, den Verfolgern zu entwischen.
Zum Glück war auf dem Waldweg niemand unterwegs: während der ganzen Hatz kam uns kein Mensch entgegen. Ich wusste, dass Alexander in der Nähe war – ein knackender Ast war an mein Ohr gedrungen, das Rascheln von bewegtem Laub abseits des Weges. Doch ich sah niemanden, höchstens ein-, zweimal einen zwischen Büschen entlangwischenden Schatten.
Der ältere der beiden Hühnerbauern begann zurückzufallen. Als ihm klar wurde, dass der Abstand sich nicht mehr verkürzen ließ, winkte er ab und stieg aus der Jagd aus. Sein Sohn hielt das Tempo noch einen guten Kilometer länger durch, bevor auch er zusehends schlappmachte. Ich verfiel in einen gemütlichen Trab, so liefen wir noch an die fünfhundert Meter weiter. Dann fing mein Verfolger zu japsen an, kurz darauf ging bei ihm gar nichts mehr – wahrscheinlich war er Raucher. Die Arme auf die Knie gestemmt, blieb er stehen, starrte mir aus dunklen Augen hinterher. Sofort musste ich an den toten Sikh aus dem National denken. Doch ich unterdrückte diese privaten Gefühle, sie waren hier nicht am Platz.
Wäre mein Ziel gewesen, die Verfolger abzuschütteln, hätte das Spiel hier zu Ende sein können. (So pflegt das Wunder wieder aus dem menschlichen Leben zu entschwinden.) Doch ich wollte mehr – ich wollte den Kitzel der Jagd. Also blieb ich stehen. Die Entfernung zwischen uns betrug kaum zwanzig Meter.
Wie schon gesagt: Gibt der Werfuchs sein Huhn frei, dauert es höchstens eine Minute, bis alle supraphysischen Veränderungen wieder verschwunden sind. Dann ist natürlich auch die Fähigkeit, einem Menschen davonzulaufen, futsch. Darum war das Manöver, das ich plante, riskant – doch die Gewissheit, dass Alexander zuschaute, stachelte mich an. Ich ließ das Huhn also laufen. Es tat ein paar unsichere Schritte auf dem Asphalt und blieb dann stehen. (Während der Verfolgungsjagd geraten diese Tierchen immer in einen eigenartigen Trancezustand und verhalten sich gestört.) Ich zählte bis zehn, bevor ich es mir wieder schnappte und an mich drückte.
So viel Hohn und Spott konnte mein Verfolger nicht ertragen – er riss sich zusammen und rannte wieder los, sodass wir weitere dreihundert Meter in ansprechendem Tempo hinter uns brachten. Ich war selig. Die Jagd schien zu glücken, keine Frage.
Und da geschah das Unerwartete. Wir hatten gerade eine Wegkreuzung passiert, wo die Bäume mit allerlei roten und blauen Pfeilen markiert waren (vermutlich Orientierungszeichen für Skiläufer – aber wer weiß, welchen Reim sich Alexander darauf gemacht hätte), da hörte ich meinen Verfolger plötzlich rufen: »Hierher! Hilfe!«
Ich wandte mich um, sah ihn jemanden heranwinken. Und dann tauchten aus dem Seitenweg, an dem wir gerade vorbeigekommen waren, zwei berittene Polizisten auf.
Es fällt mir schwer, das Grauen und die Größe dieses Augenblicks in Worte zu fassen. Bei Puschkin im Ehernen Reiter ist dergleichen beschrieben, nur handelt es sich dort um einen Reiter, hier waren es zwei. Wie in der Zeitlupe eines Alptraums vollzogen sie eine Vierteldrehung, und auf einmal guckten vier Visagen in meine Richtung: zwei Pferde und zwei Polizisten. Sie nahmen die Verfolgung auf.
Woher bei uns dieser Hass auf englische Aristokraten kommt? Es dürfte genügen, für ein paar Sekunden in meine Haut zu schlüpfen (besser gesagt, mein Fell, denn zu dem Zeitpunkt hatte ich es schon – wenn auch nicht durchgehend, nur stellenweise), um diese Frage nie wieder zu stellen. Bullen sind ein tumbes und unfreies Volk, was will man von ihnen erwarten. Aber wie könnte man es hochgebildeten Menschen nachsehen, dass sie die Agonie eines fremden Wesens zu Sport und Zeitvertreib gebrauchen? Ich mag das Tun meines Schwesterleins I darum nicht verurteilen – auch wenn ich selbst natürlich nicht so weit gehen würde wie sie.